Tamieh - Licht & Schatten

Prolog

 

Finstere Schatten huschten im Schutze der Dunkelheit durch die Wälder Tamiehs. Es ließ sich nicht erkennen, um wen es sich handelte, da es nichts gab, was genügend Licht gespendet hätte, und auch der Mond nicht an Himmel stand. Die Gestalten nutzten die plötzlich hereingebrochene Nacht, ihren nächsten Schritt zu tun und ihren Plan endlich weiterzubringen. 

Sie mussten spontan handeln, da es in Tamieh keinen regelmäßigen Tag- und Nachtzyklus gab und sich Hell und Dunkel in kürzester Zeit abwechseln konnten. Sie hatten gerade einen einzelnen Kauscher verfolgt, als es plötzlich so weit war. So ließen sie von ihrem ursprünglichen Plan ab und ließen den Kauscher entkommen. Durch den dichten Wald hindurch wurde ein Licht erkennbar, das schnell größer wurde. Sie hatten ihr Ziel, das nördliche Tor von Tamieh, erreicht. Die Gruppe blieb stehen und ging noch einmal durch, wie es ablaufen sollte. Die drei Größeren von ihnen würden den Weg zum großen Platz alleine gehen, während die vierte Gestalt im Wald auf sie warten würde. Sollte es Probleme geben, würde er sich darum kümmern. Also spurteten die Drei los, ohne dass auch nur das kleinste Geräusch zu hören gewesen wäre. Es war, als stünde der Wald auf ihrer Seite.

Gut, dass ich die drei Kauscher gefunden habe, dachte der Zurückgebliebene grimmig. Sie würden ihm vieles erleichtern. Er ärgerte sich, den anderen verloren zu haben, aber diese Aufgabe hier war nun wichtiger. Wer weiß wie lange es dunkel bleiben würde. Er konzentrierte sich auf die drei, die er losgeschickt hatte. Seine Miene wurde ausdruckslos, seine Augen eisig. 

Die drei Kauscher hörten ihn in ihren Köpfen. Gwydion, der eine von ihnen, verabscheute dies und er war sich sicher, dass es den anderen beiden nicht anders erging. Aber solange sie sich in der Reichweite dieses Bastards befanden, mussten sie ihm gehorchen. Sie huschten durch die Straßen der Stadt, versuchten in den Schatten zu bleiben, so dass sie es unerkannt, bis zu dem großen Platz schafften. Viele waren ohnehin nicht unterwegs, da die Nacht auch Kälte bedeutete und so blieben die Bewohner lieber in ihren Häusern. Gwydion gab den Beiden anderen ein Zeichen. Sie blickten sich noch einmal um, um sich zu vergewissern, dass sie nicht beobachtet wurden und zeitgleich sprinteten sie los. Ihr Ziel war das kleine Häuschen am Rande des großen Platzes. Davor saßen fünf Alte in Ohrensesseln und strickten. Die Fünf konnten nicht sehen, was da auf sie zu kam und vermutlich hätten sie auch nicht darauf reagiert, wenn sie es gekonnt hätten. Ihre Aufgabe ließ keine Unterbrechung zu und so taten sie, was sie immer taten.

Zielstrebig rasten die drei Kauscher auf eine bestimmte der Alten zu und rissen sie aus ihrem Sessel. 

Sie gab keinen Laut von sich. Ulik, dessen Position die beste war, um sich die Alte zu greifen, warf sie sich über die Schulter und verschwand im Schatten der Häuser. Gwydion griff sich den Sessel und warf ihn wütend und achtlos in den Dreck. Dann rannten auch er und der Dritte wieder zurück in den Schutz der Schatten und verließen das Nordtor auf dem Weg, den sie gekommen waren. Ganz unvermittelt hoben die übrig gebliebenen Alten ihre Köpfe und ließen ein Kreischen, wie es noch nie in Tamieh zu hören gewesen war, die Stille der Nacht durchbrechen. Vögel, die sich zur Ruhe begeben hatten, schreckten auf und zogen wütend lärmend in die Dunkelheit und ein eisiger Wind, der plötzlich aufkam, fegte durch die leeren Straßen. Jeder Bewohner am Nordtor schreckte auf und in jedem einzelnen machte sich Angst breit. Sie wussten nicht was passiert war und sie wussten auch nicht, was dieses Kreischen zu bedeuten hatte. Aber es war etwas Furchtbares, das spürten sie alle!

 

 

Mila

 

Mila saß auf der Deichmauer und ließ ihren Blick über das Wasser schweifen. Sie liebte es an der Nordsee und verbrachte, so oft es ihre Zeit zuließ, am Wasser. Dieses Mal hatte sie allerdings eine Verabredung und sie war furchtbar nervös deswegen. Nicht nur, dass sie sich zu Hause raus geschlichen hatte und die drei Kilometer, bis hierher, mit dem Rad gefahren war. Es wurde bereits dunkel und Mila war sich sicher, dass ihre Eltern sauer wären, wenn sie mitbekämen, dass sie nicht in ihrem Bett lag. Ihr Blick fiel auf ihr Smartphone. Es war bereits 22:40 Uhr. Heute war Milas achtzehnter Geburtstag und bis zum frühen Abend hatte sie zusammen mit ihren Freunden und ihrer Familie gefeiert. Mit allen, bis auf einen. Jonas - auf den sie nun gerade wartete. Wieder schaute sie auf die Uhr. 22:42 Uhr. Sie schnaufte genervt. Wo blieb er nur?

Sie kannte Jonas aus der Schule. Während Mila aber hier aufgewachsen war, kam Jonas erst im letzten Schuljahr hierher. Er hatte sie sofort in ihren Bann gezogen. Nicht nur, dass er unverschämt gut aussah - er hatte auch etwas Geheimnisvolles an sich. Er ging seit knapp acht Monaten in ihre Klasse, aber so richtig schlau war sie aus ihm bisher nicht geworden. Zwar kamen sie ganz gut miteinander aus, aber wirklich befreundet wollte er scheinbar mit niemanden sein. Er war hilfsbereit und freundlich, hielt sich aber von allen fern. 

Auch zu ihrer Geburtstagsfeier hatte sie ihn eingeladen, oder besser hatte Jana, ihre beste Freundin so lange auf sie eingeredet, bis sie es schließlich getan hatte. Er hatte lächelnd abgelehnt, ihr aber einen großartigen Tag gewünscht. Und dann kam vor einer Stunde eine WhatsApp von ihm, in der er sie fragte, ob sie sich treffen könnten – Sofort. 

„Hey!“, kam es plötzlich von hinter ihr und erschrocken wirbelte sie herum, so dass sie beinahe von der Mauer gestürzt wäre. „Jonas! Bist Du wahnsinnig, ich hab fast eine Herzattacke bekommen“, sagte Mila wütend. Der junge Mann entschuldigte sich lachend und schwang sich zu ihr auf die Mauer. Er sah sie an und Mila lächelte schüchtern. Ihr wurde bewusst, dass sie das erste Mal völlig allein mit ihm war und sie fragte sich was er wohl von ihr wollte, was nicht auch bis morgen hätte warten können.

Während sie ihn betrachtete fummelte er umständlich in seiner Jackentasche herum und zog eine kleine Schachtel daraus hervor. „Happy Birthday Mila!“, sagte er leise und reichte ihr das kleine Geschenk. Zögerlich griff sie danach und sah ihn fragend an. „Naja, Du hast Geburtstag und so ganz übergehen wollte ich den nicht“, beantwortete er ihren Blick grinsend. Mila nahm vorsichtig den Deckel ab. „Wow!“, entfuhr es ihr und griff in die Schachtel, in der eine wunderschöne Kette lag. Sie hielt sich den Anhänger, der daran befestigt war, näher vor die Augen. Es war mittlerweile stockdunkel und sie leuchtete mit der Taschenlampe ihres Smartphones. Der Anhänger hatte die Form eines Schlüssels. Oben war eine Art von Blüte, die ihr nicht bekannt vorkam, aber wunderschön und zerbrechlich wirkte. Der Schlüsselbart, sofern es sich wirklich um einen Schlüssel handelte, war verziert mit vielen unterschiedlich gefärbten Steinen, die wie Diamanten wirkten. Wahrscheinlich war es nur Glas, dachte sie, aber sie fand ihn dennoch wunderschön. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Die Art wie der Bart hergestellt war, war ebenso außergewöhnlich. Anstatt hoher oder tiefer Zinken, waren es unterschiedlich lange Spiralen, die in unterschiedlicher Länge und unterschiedlicher Richtung vom Schlüssel weg wuchsen. Eine bessere Beschreibung fiel ihr nicht ein. Es sah tatsächlich so aus, als wuchsen diese Spiralen aus dem Schlüssel heraus. Alles sehr fein gearbeitet und aus einem glänzenden Silber.

„Jonas, sie ist wunderschön, danke. Woher hast Du die?“ Jonas räusperte sich und es wirkte auf Mila so, als wäre er nervös. Was war bloß los mit ihm? So hatte sie ihn noch nie gesehen. Er sprang von der Mauer und schien nachzudenken, sagte aber nichts. Sein Blick fiel auf die junge Frau, die ihn ansah und darauf wartete das er anfing zu reden. 

Mila hatte langes, dunkelbraunes Haar und grüne Augen, die ihn von Anfang an sehr fasziniert hatten. Sie sah wunderschön aus und er wusste das sie ihm nicht auf diese Art gefallen sollte. Es nicht durfte, und er zwang sich, sich zusammenzureißen. Dann räusperte er sich und fing an zu sprechen: „Das was ich Dir jetzt erzähle wird Dir verrückt vorkommen, aber ich bitte Dich, mich ausreden zu lassen. Es ist schwierig Dir in kurzer Zeit alles zu erklären und Dich dann noch zu bitten etwas zu tun, an das Du vermutlich nicht mal glaubst. Aber bitte vertrau mir!“

Er sah sie an und wartete auf eine Antwort. Als keine kam, griff er nach ihrer Hand und schaute ihr in ihre Augen. Mila wirkte verwirrt und wer konnte ihr das verübeln? 

„Weißt Du, als ich vor ein paar Monaten hierher kam, da kam ich nicht aus einer anderen Stadt oder einem anderen Land. Ich kam auch nicht zusammen mit meinen Eltern hierher…“, er brach ab und schaute zu Boden. „Oh man, ist das kompliziert!“ „Was möchtest Du mir eigentlich sagen Jonas? Was ist so wichtig, dass Du es mir nicht an jedem anderen Tag hättest erzählen können? Ich verstehe auch, um ehrlich zu sein, nicht was Du da redest.“

„Warte“, bat er sie. „Ich weiß das alles ein bisschen verwirrend ist. Ich hab mir so oft in den letzten Monaten überlegt wie ich dieses Gespräch führen soll und nun wo ich hier mit Dir sitze, weiß ich nicht was ich sagen soll, um nicht wie ein Idiot zu klingen.“ „Und warum sagst Du es nicht einfach, damit ich überhaupt weiß, was Du mir sagen willst? Ob ich Dich dann für einen Idioten halte, werden wir dann ja sehen“, entgegnete sie Augenzwinkernd.

Jonas nickte, holte tief Luft und sprach weiter: „Also es ist so, ich komme aus Cormeum, das ist eine andere Welt als Deine…“

Mila lachte auf und sah ihn an. „Du verarscht mich doch jetzt“, platzte es aus ihr heraus. Jonas lächelte und schüttelte den Kopf: „Nein, tatsächlich tue ich das gerade nicht. Ich hab Dir gesagt, es wird sich verrückt anhören, aber wirklich jedes Wort von dem, was ich Dir sage, ist wahr. Die Welt, aus der ich komme, ist eine von vieren. Du lebst hier, auf der Erde, ich selbst komme aus Cormeum. Dann gibt es aber noch Dorsberge und auch Medusien.“ Mit einem Blick auf seine Uhr und anschließend auf Mila fuhr er fort: „Ja ich weiß wie sich das für Dich anhören muss, aber es ist so, wie ich es sage und ich werde Dir nachher auch noch einen Beweis liefern. Ich kann Dir hier nicht alles erklären, das meiste wird sich für Dich in Tamieh klären, sofern Du bereit bist mich zu begleiten. 

“Was?“, unterbrach sie ihn. „Dich begleiten? Wohin?“

„Nach Tamieh, Mila. Das ist so etwas wie die Verbindung zwischen unseren Welten. Auch wenn sich unsere vier Welten eigentlich niemals treffen sollen, ich also gar nicht hier bei Dir sein sollte. Aber es ist etwas passiert, was alles ändert und wir müssen etwas tun, um das wieder in Ordnung zu bringen, denn sonst ist jede unserer vier Welten in großer Gefahr!“

Mila schwieg. Sie wusste nicht so recht was sie zu dem Ganzen sagen sollte. Wenn das ein Scherz sein sollte, dann war er verdammt schlecht. Jonas erzählte ihr also gerade was? Dass er ein Außerirdischer war? 

Ihr Blick fiel auf die Kette, die sie noch immer in ihrer Hand hielt. 

Jonas ergriff wieder das Wort: „Ich weiß selbst dass das alles völlig unglaublich klingt, und wenn ich mehr Zeit gehabt hätte, dann hätte ich Dich langsam darauf vorbereitet. Aber ich musste Lior versprechen Dir erst heute…“Mila unterbrach ihn: „Wer ist Lior?“

„Er ist ein Magier und ein Hüter Tamiehs“, beantwortete er ihre Frage, als ob das selbstverständlich sei. Dann strich er mit seinen Fingern zärtlich über den Anhänger in ihrer Hand, so dass Mila eine Gänsehaut bekam. 

„Das was Du da in Deiner Hand hälst, ist ein Schlüssel, der nach Tamieh führt“, erklärte er weiter. Mila nahm der Anhänger und hielt ihn sich vor die Augen. Also tatsächlich ein Schlüssel, dachte sie, schüttelte dann aber sofort ihren Kopf. Das was er ihr da erzählte, konnte unmöglich wahr sein und demnach war dies auch kein Schlüssel.

„Ok, ich sehe schon“, sagte Jonas, griff nach der Kette in ihrer Hand und nahm sie an sich. Mila wollte schon protestieren, aber Jonas hob seine Hand und bat sie zu warten. „Komm, lass uns dort zum Leuchtturm gehen“, sagte er und half ihr, von der Mauer zu springen. Er zog sie hinter sich her und gemeinsam gingen sie zu dem hoch aufragenden Bauwerk. „Lior hat hier eine Zugang nach Tamieh geschaffen und nur hier passt auch dieser Schlüssel. Das, was Du jetzt zu sehen bekommst, soll Dich nicht erschrecken, aber ich merke das Du mir nicht glaubst und Lior hat mir verb…“, er stockte, dachte kurz nach und fuhr dann fort. „Ich möchte Dir zeigen, dass es wahr ist!“

Auch wenn Mila nicht entgangen war, dass er eigentlich etwas anderes sagen wollte, war sie von dem was sich ihr nun bot so fasziniert, dass sie vergaß ihn darauf anzusprechen. Jonas hielt den Anhänger in Richtung des Leuchtturms und augenblicklich fing der Schlüssel an zu leuchten. Durch die Diamanten oder Glassteine, sie war sich noch immer nicht sicher, was es war, leuchtete es in allen Regenbogenfarben und das Licht breitete sich diffus aus. Die Spiralartigen Zinken des Schlüssels wurden länger und schienen sich in die Dunkelheit zu bohren und die Welt vor ihnen auseinanderzudrücken. Zuerst war nur ein kleiner Riss in der Luft zu sehen, der aber schnell immer breiter wurde. Mila schnappte nach Luft und stolperte rückwärts. Hätte Jonas sie nicht gehalten, wäre sie vermutlich hingefallen. 

„Keine Angst“, versuchte er sie lächelnd zu beruhigen, aber das war angesichts des Bildes, das sich ihr bot, leichter gesagt als getan. Noch immer breitete sich das Loch aus, dahinter war es taghell und an den Seiten waberte ein leichter Nebel hindurch. 

„Das Mila, ist der Weg nach Tamieh. Und auch wenn es vollkommen verrückt ist, bitte ich Dich, mit mir zu kommen. Ich mach Dir nichts vor, es ist gefährlich und ich kann Dir hier nicht versprechen das Du wieder zurück kommst. Aber tust Du es nicht, werden Deine, meine und auch die anderen Welten zugrunde gehen. Nur zusammen können wir verhindern, dass das, was gerade in Tamieh geschieht vollkommen außer Kontrolle gerät. Und ich werde Dir versprechen, dass ich mein Möglichstes tue, um auf Dich aufzupassen.“ Er sah sie an und wartete. Mila beugte sich ein wenig vor und starrte durch das Loch. Vor sich sah sie eine Wüste, die sich endlos hinzuziehen schien. Ein Ende konnte sie jedenfalls nicht ausmachen. 

Das war einfach unmöglich und doch sah sie es vor sich. In ihrem Kopf drehte sich alles und es war für Mila noch immer nicht wirklich zu fassen, was sie von Jonas gehört hatte und vor allem, was sie nun vor sich sah.

„Und wie kommst Du darauf das gerade ich Euch helfen könnte? Sieh mich an, ich bin nichts Besonderes!“ Sie versuchte immer noch zu ordnen was er ihr erzählt hatte. „Du hast also bereits vor Monaten gewusst, dass wir heute hier stehen würden? Warum jetzt? Warum hast Du nicht schon früher etwas gesagt?“

„Es ist ein bisschen kompliziert. Lior trifft die Wahl, wer aus den vier Welten der oder die Richtige ist. Ich weiß nicht warum seine Wahl auf Dich gefallen ist, das wirst Du ihn schon selbst fragen müssen. Ich bin auf sein Bitten bereits vor ein paar Monaten hierhergekommen, weil ihr hier auf der Erde sehr… wie soll ich es sagen? Skeptisch seid. Wärst Du heute Abend gekommen, wenn ich erst heute aufgetaucht wäre?“ Er wartete ihre Antwort nicht ab, sondern redete weiter. „Für Lior war es wichtig, dass Du mich kennst, bevor es zu diesem Gespräch kommt. Aber ich wollte Dir auch nicht zu nahe kommen, aus Sorge ich könnte mich vielleicht verplappern, wenn wir uns besser kennen. Aber es war für Lior ebenfalls wichtig, dass Du das 18. Lebensjahr erreicht hast, bevor auch Du nach Tamieh kommen kannst.“

Schweigend hatte sie ihm zugehört und nun fragte sie sich, ob das alles ein Traum war. Vielleicht lag sie in Wirklichkeit in ihrem Bett und ihre Fantasie ging einfach mit ihr durch?

„Mila, kommst Du mit mir?“, Jonas Stimme riss sie aus ihren Gedanken.

„Das ist doch komplett verrückt“, antwortete sie, ging aber langsam auf das Loch zu. Jonas hielt sie zurück und kletterte zuerst hindurch. Nun stand er in der sonnendurchfluteten Wüste, währen Mila in der Dunkelheit am Deich an der Nordsee stand. Er reichte ihr seine Hand und ohne weiteres zögern, ergriff sie sie und kletterte ebenfalls durch das wabernde Loch in der Luft. Augenblicklich fing sich dies an zu schließen und überrascht und erschrocken wirbelte Mila herum. Sie wollte durch das immer kleiner werdende Loch fassen, doch Jonas hielt sie zurück.

„Da möchtest Du nicht feststecken“, sagte er nur kalt.

 

Die Reise beginnt

 

„Jonas, wie komm ich denn wieder zurück? Ich… meine Eltern werden durchdrehen wenn ich einfach weg bin!“, Milas Stimme klang verzweifelt, ihre großen Augen sahen ihn erschrocken an. Erst jetzt wurde ihr bewusst was sie getan hatte und auch jetzt erst wurde ihr bewusst, dass sie eigentlich nichts über Jonas wusste. Und das wenige das sie gedacht hatte über ihn zu wissen, war nicht einmal wahr. In ihr breitete sich eine so große Panik aus, wie sie sie noch nie in ihrem Leben verspürt hatte.

„Mila, beruhige Dich!“, Jonas legte seine Hände auf ihre Schulter und blickte ihr ruhig in die Augen. Augenblicklich spürte Mila, wie sie sich entspannte.

„Es ist alles in Ordnung! Wenn Du lieber zurück möchtest, dann öffne ich es wieder. Aber ich wünschte mir, du könntest Dich dazu durchringen mit mir nach Tamieh zu kommen, die anderen kennen zu lernen und mit Lior zu sprechen. Deine Eltern werden nicht einmal bemerken, dass Du weg bist, ok? Hier vergeht die Zeit im Vergleich zu Deinem zu Hause so langsam, dass wir hier Jahre verbringen könnten und in Deiner Welt immer noch dieselbe Nacht herrschen würde. Zeit ist in Tamieh mit Logik nicht erklärbar und wenn es etwas gibt, worüber Du Dir keine Gedanken machen musst, dann um die Zeit.“

Konnte sie ihm das glauben? Es war so viel, was in den letzten Minuten passiert war und was er ihr erzählt hatte, dass es sicherlich so sein könnte. Hätte er einen Grund sie anzulügen? Wenn er die Wahrheit sagte, vermutlich schon, da ja auch seine Welt in Gefahr war. Und doch war sie neugierig mehr zu erfahren. Tamieh zu sehen, vielleicht die anderen Welten. Sie war sicherlich kein Abenteurer, aber sie liebte Fantasy Romane. Selbst einen zu erleben, wäre verrückt und dennoch… „Ok, ich komme mit!“, sagte sie leise. Jonas grinste sie an, griff ihr um die Taille und wirbelte sie herum. Mila lachte laut auf. Er blieb so abrupt stehen, dass beide ins Straucheln gerieten. Dann blickte ihr Jonas tief in die Augen und küsste sie auf die Stirn.

„Danke! Ich schätze Gorobald hätte mir auch den Hals umgedreht, wenn ich ohne Dich nach Tamieh zurück kommen würde“, erzählte er lachend.

„Wer ist Go…Gor…“

„Gorobald“, half Jonas ihr auf die Sprünge. „Wirst Du bald zu sehen bekommen“, lachte er, ließ aber weitere Erklärungen aus. Stattdessen erzählte er ihr einiges über ihren bevorstehenden Weg. Bevor sie nach Tamieh kamen, mussten sie zuerst Eznerg durchqueren, danach durch eine Höhlenwelt und zu guter Letzt durch den Totiuswald. Er erzählte ihr, dass jeder Teil ihres Weges, einige Tücken bereithalten würden. Die Wüste Eznerg zum Beispiel würde versuchen sie von ihrem Vorhaben abzubringen, Tamieh zu erreichen. Oder besser würde das, was darin lebte, versuchen sie zuerst voneinander zu trennen, damit sie sich dann in den Weiten der Wüste verlieren würden. 

„Wichtig beim Durchqueren von Eznerg ist eigentlich nur, dass Du nicht versuchst hinzuschauen wohin Du gehst. Schau auf Deine Füße, denk an Tamieh und daran es zu erreichen. Und vielleicht nimmst Du lieber meine Hand.“ Damit hielt er ihr seine hin und wartete. Zögerlich nahm Mila sie, hielt ihn aber zurück, als er begann loszugehen. „Und was genau lebt hier?“, wollte sie von Jonas wissen. Der erwiderte das er das nicht genau wüsste, da er sie bisher auch nur gehört hatte.

„Na los!“, animierte er sie. „Der erste Schritt ist immer der Schwerste, aber Du wirst sehen, dass alles nur halb so schlimm ist, wie Du es Dir vorstellst.“ 

Er lächelte breit, schaute auf seine Füße und zog sie vorsichtig mit sich. Auch Mila senkte ihren Blick und ließ sich von ihm führen. Je weiter sie gingen, umso weniger wurde das aber nötig. Ihre Füße schienen den Weg ganz von selbst zu finden und so gingen sie nebeneinander durch die heiße Wüste. Schon nach den ersten Schritten wurde ihr warm und sie zog die Strickjacke, die sie wegen der kühlen Brise an der Nordsee getragen hatte aus und band sie sich um die Hüften. 

Das Erste merkwürdige, was sie hörte, waren leise Flüsterstimmen. Sie versuchte zu verstehen, was sie sagten, konnte aber außer Gemurmel nichts erkennen. Je genauer sie hinhörte, umso mehr musste Jonas sie wieder führen. Sein Griff wurde fester. „Hör nicht hin“, sagte er und korrigierte immer wieder ihre Richtung, die sie einschlug. Das allerdings fiel Mila schwer, da das Flüstern immer mehr an Lautstärke gewann und sie flehende Rufe zu erkennen meinte. Dann plötzlich durchzog ein furchtbares Kreischen die Wüste. Mila zuckte zusammen, blieb stehen und ihre Blicke durchsuchten die Weite vor sich. In der Ferne schien eine Person zu stehen, die schreiend und kreischend versuchte auf sich aufmerksam zu machen. Dann verstellte ihr Jonas die Sicht. „Was hab ich Dir gesagt? Nicht hinhören, nicht hinsehen. Einfach nur an Tamieh denken und laufen!“

Er hatte schon befürchtet, dass das passieren würde. Mila kam aus einer Welt in der Magie und fremde Wesen kaum noch einen Platz hatten. Für ihn und auch die anderen waren Feen, Elfen, Drachen, Kobolde und dergleichen nichts Unbekanntes. Sie lebten mit diesen Wesen nebeneinander und in der einen Welt mehr, in der anderen Welt weniger, war auch Magie oder besondere Fähigkeiten nichts Ungewöhnliches. Einzig auf der Erde stand man solchen Dingen gleichgültig gegenüber und sah es nicht mehr.
Mila setzte an ihm zu widersprechen, doch er unterbrach sie: „Du wirst hier noch ganz andere Dinge zu hören oder sehen bekommen, das da ist noch harmlos. Hier ist nichts und niemand der Hilfe braucht und selbst wenn doch… helfen könnte man hier nicht. Sobald Du versuchst, eine Person, die Du in der Ferne siehst, zu erreichen, würdest Du Dich verirren und trotzdem nie bei dieser Person ankommen. Tamieh wäre dann für Dich unerreichbar! Anders als in Wüsten in unseren Welten, würden wir hier weder verhungern, noch verdursten. Wir würden auf ewig durch diese Wüste irren und nicht sicher sein, ob wir leben oder bereits tot sind. Wir könnten uns an nichts mehr erinnern, würden einfach weiter irren, bis wir jemanden in weiter Ferne sehen würden und denjenigen verzweifelt um Hilfe bitten. Nur damit der nächste in dieser Endlosigkeit gefangen wäre. Man kann hier niemanden erreichen. Du solltest Dir nicht einmal sicher sein, ob er überhaupt dort stand, oder nicht. Es ist unmöglich, das hier sicher zu sagen.“

Entsetzt starrte sie ihn an. Auf was hatte sie sich hier bloß eingelassen? Wenn ihr schon das hier solche Angst machte, was würde noch passieren? Und wie sollte sie das ignorieren? 

„Bereit?“, fragte Jonas und Mila nickte, schaute auf ihre Füße und ging los. 

Das Nächste was sie hörten war ein hysterisch klingendes Gelächter. Erst nur von einer Stimme, der aber nach und nach weitere einstimmten. Die Lautstärke war ohrenbetäubend und das Gelächter ging Mila durch Mark und Bein. Es war kein angenehmes Lachen, sondern hörte sich an, als wären die, die es von sich gaben vollkommen übergeschnappt. Mila bekam Kopfschmerzen und sie fragte sich, wie Jonas das bloß ertragen konnte. 

„Alles ok bei Dir?“, hörte sie ihn in ihr Ohr brüllen, denn anders wäre seine Stimme auch gar nicht zu ihr durchgedrungen. Sie nickte gequält und starrte weiterhin auf ihre Füße, versuchte leise ihr Lieblingslied zu summen und hoffte und betete, dass dieses schrille Gelächter bald ein Ende finden würde.

Gerade als sie befürchtete das sie selbst in diese Hysterie mit einstimmen würde, hörte es auf. Im selben Moment huschte etwas Riesiges an ihr vorbei und Mila schrie bestürzt auf. Fast hätte sie Jonas Hand losgelassen, doch der hatte unglaublich schnell reagiert, ihre Hand fester gegriffen und sie an sich gezogen. Sein Blick traf ihren und Mila spürte eine unglaubliche Wärme, die sich in ihrem Körper ausbreitete. Sein Blick hatte etwas Beruhigendes an sich, ohne das er auch nur ein Wort sagte. Er sah sie nur an, und sie fürchtete fast, in seinen grauen Augen zu versinken. Dann war der Moment vorbei, aber sie hatte das, was sie so erschreckt hatte, vergessen. 

Immer noch schweigend, setzten sie ihren Weg fort. Eine ganze Zeit geschah nichts und sie liefen ungestört durch die Wüste. Jetzt wo nichts sie ablenkte, merkte Mila wie durstig sie war.

„Jonas“, setzte sie an, „Du hast nicht zufällig etwas zu trinken dabei?“ 

Er blieb stehen und ging in die Hocke, wobei er Mila mit sich hinunter zog. 

„Nein, ich habe nichts bei mir, aber jetzt wirst Du staunen“, sagte er geheimnisvoll und fing an den Sand vor sich mit seinen Händen umzugraben. Nach nur kurzer Zeit kam ein grünes, fleischig aussehendes Etwas zum Vorschein. Jonas zog ein kleines Messer aus seiner Hosentasche und fing an, kleine Stücke aus diesem Ding herauszuschneiden. Eine milchige Flüssigkeit quoll aus den Stücken hervor. 

„Steck es Dir in den Mund. Schmeckt nicht wie Cola oder Saft, bringt aber mehr. Du kannst darauf rum kauen bis es trocken ist und dann einfach ausspucken.“ Mit dieser kurzen Erklärung steckte er sich selbst eines der Stücke in den Mund und drückte Mila ebenfalls eins in die Hand. Sie nahm es vorsichtig und führte es langsam zu ihren Mund und zögernd schob sie es hinein. Sofort breitete sich eine wohltuende Feuchtigkeit in ihr aus. Das hatte sie so nicht erwartet und sie musste lächeln. 

„Das tut gut“, sagte sie und kaute weiter. Er hielt ihr drei weitere Stücke hin und steckte sich ebenfalls einige in die Jackentasche.

„Wachsen die hier überall oder war es einfach Glück, dass Du sie gefunden hast?“, fragte Mila neugierig.

„Die findest Du überall. Ich sagte ja, dass Du hier weder verhungern noch verdursten würdest. Diese Wurzel versorgt Dich mit allem was Dein Körper benötigt.“

Sie liefen und liefen und Mila kam es wie Ewigkeiten vor. Ihre Beine taten weh und sie war müde. Sie blieb stehen und schaute in den Himmel. Nach wie vor stand die Sonne hoch am Himmel. Sie könnte schwören, dass sie sich kein Stück bewegt hatte. Aber das war unmöglich, sie mussten bereits Stunden unterwegs sein. Jonas, der ebenfalls stehengeblieben war, schaute sie an. Er konnte sich denken wie Mila sich fühlte. Auch wenn er nur eine kurze Zeit in ihrer Welt verbracht hatte, war ihm klar, dass sich sein Leben auf Cormeum und Tamieh, von ihrem weit unterschied. Das war zwar auch bei Gorobald und Hope der Fall, die beiden anderen, aus Dorsberge und Medusien, aber auf der Erde schienen die Menschen verwöhnt und nicht sehr abgehärtet zu sein. Auch wenn Lior ihm gesagt hatte, dass es wichtig sei, alle Welten zu involvieren, wusste er nicht, ob Mila das, was ihnen bevorstand, überstehen würde. Sie war verweichlicht und ängstlich. Er mochte sie, keine Frage, aber er war sich nicht sicher, ob Liors Entscheidung richtig war. 

„Es dauert nicht mehr lang, dann haben wir diesen Teil hinter uns. In den Bergen können wir uns ausruhen, bevor es weiter geht. Meinst Du, Du schaffst das?“

Mila nickte müde, ihre Füße wollten eigentlich keinen weiteren Schritt mehr tun. Es war anstrengend durch den Sand zu gehen, noch dazu, während ihr die ganze Zeit die Sonne auf den Kopf brannte. Aber zusammen mit Jonas, setzte sie sich wieder in Bewegung, nur um kurz darauf erneut stehen zu bleiben. Ein furchterregendes Brüllen durchriss die bisherige Stille. Jonas blieb dieses Mal nicht stehen, sondern zog Mila weiter. Er sagte ihr, dass sie nicht jedes Mal pausieren konnten, sobald irgendwas Neues zu hören war.

„Ich hab Dir versprochen, dass es hier absolut nichts gibt, was für Dich gefährlich wäre. Ignoriere es einfach, damit wir voran kommen.“

Er klang nicht wirklich sauer, eher genervt, wie Mila feststellte und sie versuchte sich zusammen zu reißen. Aber all diese gruseligen Geräusche machten es ihr nicht leicht, ihre Augen nach unten gerichtet zu halten. 

Wieder verging einige Zeit, bis sie plötzlich eine Veränderung am Boden bemerkte. Der Sand, der vorher fast weiß war, wirkte zuerst gelblich und ging dann in ein grün über. Und dann, ganz unerwartet standen sie auf einer Art von Stein, welcher überwuchert war von hellem Moos. 

Jonas ließ Milas Hand los und kletterte die kleine Anhöhe hinauf, die zu einem Höhleneingang führte. Mila tat es ihm nach, aber sie war vorsichtiger, da das Moos die Steine rutschig machte und sie wollte einen Sturz vermeiden. Trotzdem rutschte sie aus und ein scharfer Schmerz schoss durch ihr Knie, das auf einem spitzen Stein landete und ihr die Jeans aufriss. Mit zusammengebissenen Zähnen kletterte sie weiter und besah sich oben angekommen ihr Knie.

„Schlimm?“, fragte Jonas mit Blick auf die sich nun rotfärbende Hose.

„Nee, geht schon“, antwortete Mila, rieb sich nochmal kurz über die Wunde und erhob sich dann, um ihm zur Höhle zu folgen. Dort angekommen, fiel ihr sofort ein Rucksack auf, der dort auf einem Vorsprung stand. Jonas klärte sie auf, dass er ihn dort zurück gelassen hatte. Darin waren einige nützliche Dinge wie eine Laterne, Streichhölzer und Wolldecken. Sie waren hübsch bunt und Mila bewunderte gerade die wunderschönen Farben, als sie ein Kichern wahrnahm und darauf folgend Jonas Stimme, der freudig reagierte: „La! Wie schön Dich endlich wiederzusehen!“ Mila blickte sich um und zuerst sah sie niemanden, dann jedoch fiel ihr Blick nach unten. Dort 

stand eine kleine Kreatur, die ihr nicht einmal bis zu den Knien ging. Das Ding wirkte wie ein kleines Tier auf zwei Beinen, irgendwie eine Mischung aus Maus und Gnom. Eine unglaublich hochtoupierten Frisur in pink rahmte das kleine Gesicht ein. Tiefschwarze, kleine Knopfaugen mit langen Wimpern, schauten zu Mila hinauf. Die Nase war ein rosa Knubbel mit mehreren kleinen Pickeln in tiefen rot darauf und aus dem Mund ragten einige große, schiefe Zähne heraus. Angezogen war es mit mehreren übereinander getragenen Kleidern in vielen bunten Farben. 

„Hallo Mila, wie schön es ist, Dich endlich kennen zu lernen“, piepste das kleine Ding fröhlich und ein ausladendes Lächeln machte sich auf dem kleinen Gesicht breit. Jonas stellte sie als La vor, eine Bewohnerin Tamiehs, die zum Volk der Liliput gehörte. 

„Ich und Murr haben Euch etwas Vernünftiges zu Essen mitgebracht. Ich hoffe Ihr seid hungrig?“, fragte das kleine Wesen freundlich.

Auf diese Frage nickten Mila und Jonas einstimmig und Mila schaute sich im Inneren der Höhle genauer um, um herauszufinden, wer oder was ein Murr war. In diesem Moment trat etwas Großes aus der Dunkelheit der Höhle heraus und zeitgleich verbreitete sich ein übler Gestank, der Mila zum Würgen brachte.

Jonas und La lachten und baten Murr, schnell an ihnen vorbei nach draußen zu gehen. Der schaute zwar ein wenig beleidigt, tat aber worum er gebeten worden war. Mila, die sich mittlerweile wieder etwas gefangen hatte, drehte sich um und betrachtete das stinkende Wesen. Am Höhleneingang, stand neugierig dreinschauend, eine Art Vogel. Es hatte ein kleines bisschen Ähnlichkeit mit einem Strauß und wiederum doch nicht. Zwar ähnelte der Körper stark an den ihr bekannten Vogel, aber der Kopf war vollkommen anders und er war auch viel größer. Es hatte riesige Ohren und es sah aus, als hätte man einen Hasenkopf an den langen Hals eines Straußenkörpers genäht. „Das ist Murr“, stellte La ihn vor. „Er ist ein Gog und hat mich hierher gebracht, weil es für uns Liliput zu anstrengend wäre, diesen weiten Weg zu Fuß zurückzulegen. Leider riechen Gogs nicht sonderlich gut, sind dafür aber in ihrer Schnelligkeit nicht zu überbieten.“

Wieder etwas beleidigt, verbeugte sich der große Vogel und begrüßte Mila und Jonas mit dunkler, gurrender Stimme. „Sehr erfreut“, war seine kurze, aber ernstgemeinte Antwort.

„Nun kommt!“, bat La und zeigte weiter in die Höhle. „Ich habe dort drüben ein kleines Lager für Euch hergerichtet, wo ihr Euch stärken und ausruhen könnt.“ Damit lief sie in die Höhle hinein und war verschwunden. Dann hörte man noch einmal ihre piepsige Stimme, die Murr befahl draußen zu bleiben, da er den beiden nur den Appetit verderben würde. 

Der Gog schnaufte daraufhin und ließ sich vor dem Eingang nieder.

Mila war das sehr unangenehm, aber sie wusste nicht was sie hätte sagen sollen. Hereinbitten wollte sie ihn keinesfalls, da der Gestank für sie fast unerträglich war.

Jonas grinste und zündete ein Streichholz an, mit dem er die Laterne anzündete. „Mach Dir nichts draus. Der tut nur beleidigt. Die Gogs sind tatsächlich stolz darauf zu stinken, nicht wahr Murr? Je grässlicher sie riechen, umso höher sind sie in ihren Reihen angesehen.“

Murr nickte daraufhin langsam und der Stolz war ihm tatsächlich anzusehen.

„Dann hat er wohl einen sehr hohen Rang bei den Gogs, was“, erwiderte Mila flüsternd und Jonas lachte laut auf.

„Wenn Du wüsstest wie sehr Du Dich da irrst“, konterte er weiter lachend.

Mila stöhnte gespielt überzogen auf und betete, nie einem höher gestellten Gog zu begegnen.

Zusammen gingen sie nun in die Richtung, die La eingeschlagen hatte und im Licht der Laterne wurde das Innere der Höhle sichtbar. 

Die Höhle war großartig. Stalagmiten und Stalaktiten wuchsen von Boden und Decke, und erstrahlten in den wunderschönsten Farben. Manche von ihnen schienen zu leuchten und Jonas erzählte, dass das mit einer Art Bakterium zusammenhing, das darauf lebte. Der Umgebung zum Trotz, hatten sich allerlei fremdartiger Pflanzen in den Höhlen breit gemacht und in einem Teil glich es fast einem Dschungel, mit Wasserfall und wunderschönem See, der nach Lavendel roch. Mila wusste gar nicht, wohin sie als erstes schauen sollte. Anders als sie es aus Höhlen kannte, war es hier bunt und schön. Es leuchtete in den Wänden, die Wasserfälle waren rosa gefärbt und die Pflanzen hatten sogar Blüten.

„Toll, oder?“, fragte Jonas und führte sie auf einen kleinen Geröllhaufen zu, der fast wie Tisch und Stühle wirkte. Er stellte die Laterne ab und ließ sich auf einen der Steine nieder. La war bereits eifrig dabei, allerlei Leckereien aus einem großen Beutel auf dem provisorischen Steintisch zu verteilen. 

Mila, die kaum ihren Blick von der sich vor ihr bietenden Schönheit der Höhle losreißen konnte, ging nur langsam auf die beiden anderen zu. Sie konnte kaum fassen, was sie sah und in diesem Moment fühlte sie sich, wie eine der Romanfiguren aus ihren Büchern. Sie lächelte und ließ ihre Finger über die Blüten und Steine wandern.

„Wenn Dich das hier schon so begeistert, wirst Du vom Totiuswald hingerissen sein“, sagte Jonas. 

La warf ihm einen skeptischen Blick zu, der Mila natürlich nicht entging.

„Bist Du anderer Meinung, La?“, fragte sie deshalb, aber die kleine Liliput zuckte nur ihre Schultern und arrangierte weiter das Essen.

„Sieht toll aus und riecht hervorragend“, lobte Jonas und La lächelte schüchtern. 

Nun ging auch Mila zum Tisch und gesellte sich zu den Beiden. Auch sie machte La ein Kompliment und diese freute sich sichtlich. Mila und Jonas griffen zu Brot und Käse, aßen etwas, was ein wenig wie Obst aussah und auch so schmeckte, und tranken dazu, von La zubereiteten, Kräutertee. Zwar war das, was die Liliput mitgebracht hatte, nicht das, was Mila an Obst kannte, aber auch wenn es anders war, als dass ihr bekannte, war es köstlich und erfrischend.

Sie saßen eine ganze Zeit zusammen, bis La schließlich das Wort ergriff: „Du hast bestimmt tausende Fragen, oder Mila?“

Jonas Blick wurde düster und die Liliput zuckte ein wenig zusammen. „Das liegt nicht an uns, die zu beantworten“, erwiderte er und fügte hinzu, das Lior damit auch nicht einverstanden wäre. Er würde Mila aufklären und ihr alles erzählen.

Mila hörte eine Zeitlang geduldig zu und ergriff dann das Wort: „Aber meinst Du nicht, dass Ihr mir zumindest ein wenig erzählen könntet? Ich bin Dir hierher gefolgt, was schon an sich vollkommen verrückt ist, aber ich habe es getan. Hab ich es nicht verdient darauf vorbereitet zu werden, was mich erwartet?“

Jonas schnaufte verächtlich. Mila blickte ihn erschrocken an und auch La hatte mit dieser Reaktion wohl nicht gerechnet. Der sonst so perfekt aussehende Jonas, blickte nun eiskalt und arrogant auf Mila. Er lehnte sich zurück und streckte sich. Eine Strähne seiner blonden Haare, fiel ihm in die Stirn und Mila war überwältigt von seiner Schönheit. Er hatte ein auffallend maskulines Gesicht und seine Augen waren unglaublich groß und in einem kühlen grau. Seine Haut war leicht sonnengebräunt, und sein Körperbau muskulös. Keine Unebenheit auf seiner Haut, keine Pore die man sehen konnte. Einzig eine winzige Narbe zog sich vom linken Auge weg, zur Stirn. An ihm stimmte einfach alles, bis auf der Blick, mit der er sie jetzt gerade fixiert hielt. „Du glaubst also, Du hättest Dir etwas verdient, nur weil Du mir hierher gefolgt bist?“, fragte er.

Die Verachtung, die ihr entgegenschlug, war so groß, dass Mila die Kälte körperlich spüren konnte.

„Jonas, bitte…!“, versuchte La ihn zu beschwichtigen, aber der ging nicht darauf ein.

„Du weißt überhaupt nichts, Mila! Du bist eine wunderschöne junge Frau, die naiv und tollpatschig in diese Welt kommt. In Deiner Welt ist noch alles wunderbar, Dein Leben hat Dir bisher nur positives geschenkt und vermutlich weißt Du schon jeden Morgen beim Aufstehen, was Dein Tag für Dich bereit hält. Wunderbar strukturiert und vorhersehbar. Du musstest nie ums Überleben kämpfen oder hast gesehen was wir gesehen haben…“, er brach ab. La legte ihm vorsichtig ihre kleine Hand auf den Arm, aber er schien diese Berührung gar nicht wahrzunehmen.

„Was habe ich falsch gemacht?“, flüsterte Mila unsicher. Sie konnte sich den plötzlichen Umschwung in Jonas nicht erklären und natürlich wusste sie nichts. Es erzählte ihr ja auch keiner etwas. Plötzlich wurde sie wütend. Was bildete dieser Kerl sich eigentlich ein? „Wo ist Dein Problem Jonas? Nein, ich weiß nicht was Du oder die anderen erlebt haben, woher sollte ich auch? Aber ja, auch ich habe eine Erklärung verdient. Warum hast Du mich hierher mitgenommen? Was soll ich hier, wenn ich doch so naiv und dumm bin, wie Du sagst!“ 

Mila war vom Tisch aufgesprungen, weil sie in ihrer Wut nicht mehr still sitzen konnte.

Jonas Blick wurde etwas weicher und er stand nun ebenfalls auf und ging auf Mila zu. Die trat ein Schritt zurück, war einfach zu wütend, um ihn in ihre Nähe zu lassen. Außerdem hatte sein Ausbruch sie erschreckt. Er hatte so voller Abscheu auf sie hinab gesehen, dass sie sich fragte, ob er wirklich so harmlos war, wie er mal auf sie gewirkt hatte.

„Mila ich… ich muss mich entschuldigen“, begann er leise. Er reichte ihr seine Hand, die sie aber ignorierte. „Mila, bitte!“ Sein Blick war nun weich und er schaute ihr tief in die Augen. 

Ihre Wut verflog und wieder breitete sich Wärme in ihrem Körper aus. Was passiert hier bloß, fragte sie sich. Lag es an ihm, dass sie sich so fühlte? Irritiert riss sie ihren Blick von ihm los und schaute zu La, die neugierig diese Situation beäugte, aber eindeutig nicht einverstanden war mit dem, was sie da sah. Sagen tat sie aber nichts, sondern schüttelte nur fast unmerklich ihren kleinen Kopf.

„Mila“, hörte sie wieder Jonas Stimme, der nun näher gekommen war und ihre Schultern ergriff und sie zwang ihn anzusehen. Zuerst versuchte sie ihren Blick auf seinen Mund gerichtet zu lassen, merkte aber schnell, dass das keine gute Idee war. Er hatte einen wunderschönen Mund, dachte sie und errötete. Schnell richtete sie ihren Blick auf seine Augen und das klare Grau fesselte sie. Sein Blick wirkte nun traurig und er schien über etwas nachzudenken: „Du hast recht, entschuldige. Ich habe mich wie ein Idiot benommen, aber es ist so viel passiert und meine Gefühle sind mit mir durchgegangen. Ich werde Dir alles erzählen, aber erst, nachdem Lior mit uns gesprochen hat. Ich bitte Dich, auch wenn das sicherlich viel verlangt ist, meine Entschuldigung anzunehmen. Ich wollte Dich nicht so anfahren und ich halte Dich auch nicht für dumm!“ Sein Blick hielt sie fest und sie fragte sich, ob er log oder ob das, was er sagte, tatsächlich ernst gemeint war. 

Mila hörte aus Richtung des Eingangs ein Scharren und kurz darauf Murr, der fragte, ob alles in Ordnung sei. La beruhigte ihn und sagte das er ohne sie nach Tamieh aufbrechen sollte. Sie wolle den Weg zurück doch lieber mit Jonas und Mila gehen.  Nachdem Murr sich dreimal überzeugt hatte, dass sie das wirklich so wolle, huschte ein großer Schatten in einer unglaublichen Geschwindigkeit an Mila und Jonas vorbei, dass deren Haare durch den Windzug durcheinander gewirbelt wurden. Nur der bestialische Gestank, der sich verbreitete, verriet, dass es der Gog gewesen war, der an ihnen vorbei gesaust war. 

Mila und Jonas standen sich noch immer gegenüber und nun fasste er ihr vorsichtig unters Kinn. „Wirklich Mila, ich mag Dich sehr und wollte Dich nicht verletzen! Manchmal fällt es mir schwer meine Gefühle zu kontrollieren und ich sage Dinge, die ich nicht so meine, es tut mir unendlich leid!“

Diesmal glaubte Mila seinen Worten und sie sah, dass sich Tränen in seinen Augen gesammelt hatten, die er versuchte, weg zu blinzeln. Was war bloß mit ihm geschehen, dass ihre Frage ihn so in Rage gebracht hatte?

Mila lächelte vorsichtig und nickte dann. „Ist schon gut, lass uns das vergessen“, sagte sie. Sie versuchte sich von ihm zu befreien, aber er hielt sie fest und zog sie an sich. Seine Hand vergrub er in ihren Haaren und sie spürte, wie sein Mund ihre Haare berührte. Irgendwie war ihr das unangenehm, aber sie konnte keine Erklärung dafür finden, warum. Es fühlte sich nicht richtig an, was er tat und Las Blick nach zu urteilen, war die derselben Meinung. 

„Nun, ich denke Ihr solltet Euch noch ein wenig ausruhen, bevor es weiter geht“, unterbrach La diese doch recht merkwürdige Situation.

So wirklich im Griff schien Jonas sich generell nicht zu haben, ging es Mila durch den Kopf. Seine Art sie zu berühren war falsch, auch wenn sie einfach nicht darauf kam, was genau dieses Falsche ausmachte. Es war nichts Freundschaftliches daran, dachte sie dann und nickte unbewusst. Sie fand Jonas attraktiv und er hatte sie bis zu seinem Ausbruch vorhin auch durchaus angesprochen, aber jetzt gerade, wollte sie nicht so von ihm angefasst werden. Dankbar nutzte sie die Unterbrechung durch La und löste sich von ihm. 

Jonas Körper erstarrte augenblicklich und er warf der Liliput einen strafenden Blick zu. Die tat, als würde sie nichts bemerken und räumte die Dinge vom Tisch in ihren Beutel zurück. Dann hüpfte sie über einen der Steinhocker auf den Boden und ging zu einer provisorisch hergerichteten Schlafstätte. Sie zupfte an den Decken herum, ignorierte Jonas und warf einen Blick zu Mila: „Du musst müde sein, ruh Dich jetzt ein wenig aus!“

Tatsächlich merkte Mila das jegliche Kraft aus ihrem Körper verschwunden war. Sie fühlte sich erschöpft und ausgelaugt und kam der Bitte der Liliput dankend nach. Sie legte sich auf eine der Decken und war überrascht wie weich es hier war. Vermutlich befand sich Moos unter ihr, dachte sie. 

La zog eine weitere Decke heran und deckte Mila damit zu, dann schnappte sie sich einen kleinen Beutel und verschwand in der Höhle. Sie würde die Zeit nutzen, um einige Kräuter zu sammeln und zeitgleich Jonas aus dem Weg zu gehen. Sein Blick war ihr noch in guter Erinnerung. Sie konnte nicht verstehen, warum Lior gerade ihn hierher geschickt hatte. Bei reiflicher Überlegung verstand sie es dann aber doch. Gorobald wäre vermutlich nicht der Typ gewesen, dem Mila sonderlich großes Vertrauen geschenkt hätte und Hope wäre auf der Erde zu sehr aufgefallen. Trotzdem wollte sie ihn im Auge behalten. Sein Verhalten heute, hatte sie misstrauisch gemacht. Eigentlich mochte sie Jonas. Sie kannte ihn schon sehr lange, da er bereits als kleines Kind nach Tamieh gekommen war. Aber je älter er geworden war, umso stärker hatte er sich verändert. Schon einige Male hatte er sich unangemessen verhalten. 

Jonas versuchte nicht sie aufzuhalten. Sein Blick war auf den schlafenden Körper von Mila gerichtet. Wie schön sie ist, dachte er. 

Darauf hatte Lior ihn nicht vorbereitet und schon seit seiner ersten Begegnung mit ihr, befürchtete er, dass dies ein Problem werden würde. Ein Problem für Tamieh zumindest, fügte er gedanklich hinzu und lächelte. In seinem Kopf hatte sich ein Gedanke verfestigt und je mehr Zeit er in Milas Nähe verbrachte, umso intensiver wurde er. Er lächelte, als er aufstand, um sich neben sie zu legen. Sein Gesicht ihr zugewandt, damit er sie weiterhin betrachten konnte. Wie gern hätte er sie berührt, hatte aber Sorge er könne sie damit wecken und erschrecken. Das letzte was er wollte war, dass sie sich von ihm abzustoßen fühlte. Er nahm sich vor, für sie den Gentlemen zu spielen, der Ritter in der glänzenden Rüstung zu sein, der sie von nun an beschützen würde, um sie für sich zu gewinnen. Mit diesen Gedanken schlief auch er schließlich ein. Sein Schlaf war unruhig, seine Träume düster. Schon seit seiner Kindheit wurde er von Alpträumen geplagt und sie handelten immer von dem einen Mann, den er so sehr hasste und verabscheute. Und jedes Mal war es dieser Mann, der Jonas Leben beenden wollte.

 

 

Totius

 

Mila erwachte durch die Stimmen von Jonas und La, die angeregt in ein Gespräch vertieft waren. Sie saßen an dem Steintisch und tranken Tee.

Wie lange hatte sie wohl geschlafen? Mila erschrak bei diesem Gedanken, fragte sich ob ihre Eltern bereits bemerkt hatten, dass sie nicht in ihrem Zimmer war und stand hektisch auf.

„Alles in Ordnung?“, fragten Jonas und La und Mila erzählte ihnen von ihrer Befürchtung. Um nichts in der Welt wollte sie ihren Eltern Sorgen bereiten.

La lächelte und fragte Jonas, ob er ihr, denn so gar nichts erzählt hatte. Der wiederum sagte, dass er durchaus über die Zeit aufgeklärt hatte.

„Keine Sorge Mila“, sagte La. „Du bist noch nicht so lange hier, wie es sich vielleicht für Dich anfühlt. Es müssten schon sehr viele Monate, vielleicht Jahre hier in der Umgebung von Tamieh vergehen, bevor Deine Eltern Dich vermissen würden. Es sind nur Minuten, die in Deiner Welt vergangen sind. Setz Dich und trink einen Tee mit uns, bevor wir weiter gehen.“

Mila erinnerte sich daran, dass Jonas ihr erzählt hatte, dass die Zeit hier anders verging. Aber sie hatte es tatsächlich vergessen und konnte sich das auch nur schwer vorstellen. Sie setzte sich und schenkte sich einen Tee ein. Er roch hervorragend und dampfte heiß. Sie plauderten ein wenig und irgendwann sprang La auf, hüpfte auf den Boden und untersuchte ein paar Kräuter, die in einer Ecke wuchsen. Sie sahen schleimig aus, sorgten bei der kleinen Liliput aber für einen kleinen Freudenschrei. „Mampfer!“, quietschte sie vergnügt, zog einen kleinen Beutel hervor und pflückte fleißig drauf los. Das machte ein unangenehm schmatzendes Geräusch und Mila verzog die Mundwinkel. Wie so ein schleimiges Zeug für Freude sorgen konnte, war ihr ein Rätsel. 

Irgendwann packten sie zusammen und verstauten so viel, wie in Jonas Rucksack passte. Den Rest wollten sie hier lassen. Früher oder später würde Mila den Weg ja ohnehin zurück müssen und da konnte es nicht schaden, dass die Decken hier zurück blieben.

La war auf Jonas Schulter geklettert und dort saß sie nun und hielt sich mit ihren kleinen Händen an seinem Kragen fest. Die Höhle, so erklärte Jonas, führte einmal komplett durch die Berge und endete am Eingang eines Waldes, dem Totiuswald.

Dann und wann unterbrach La sie und bat darum ihr etwas von den Pflanzen zu pflücken und ihr zu reichen. Das gewünschte löste dann ein Sammelsurium von „Ahhhhs“ und „Ohhhhs“ und entzücktem Glucksen in ihr aus. Alles steckte sie in ihren kleinen Beutel und als der zu voll wurde, musste Jonas alles weitere in seine Taschen stecken. 

Sie waren schon eine ganze Zeit unterwegs und Mila hatte schon fast vergessen, warum sie eigentlich hier war, ganz hingerissen von der fremdartigen Umgebung, als sie plötzlich ein Grollen wahrnahm. Und nicht nur sie, auch Jonas hielt inne und horchte. 

„Was ist das?“, fragte Mila erschrocken. Das Grollen war so intensiv, dass die Höhle erzitterte.

„Wir sind jetzt bald aus den Höhlen raus und der Wald beginnt“, sagte Jonas. „Lasst uns einen Moment ausruhen, damit ich Dich auf diesen Weg vorbereiten kann“, fuhr er fort und schaute sich nach einem geeigneten Platz um, an dem sie sich setzen konnten.

Ganz in der Nähe lagen ein paar Felsbrocken, die mit einer Art Moos bedeckt waren, darauf ließen sie sich nieder. Durch das Gewächs hatte man das Gefühl auf einem weichen gepolsterten Kissen zu sitzen, es roch allerdings ein wenig muffig. 

„Der Wald ist ähnlich wie die Wüstenlandschaft, durch die wir gegangen sind. Du musst zwar dort nicht an meiner Hand laufen, solltest Dich aber auch nicht von der Umgebung zu sehr ablenken lassen. Ich denke er wird Dir gefallen, nein ich weiß er wird es. Aber der Wald und dessen Schönheit ist trügerisch. Das Einzige, was er will ist, Dich in ihm zu behalten. Er will Dich von Deinem Wunsch abbringen weiterzugehen und ihn jemals wieder zu verlassen.“

Mila fragte, wie denn ein Wald etwas wollen könne, schließlich war es doch nur ein Wald.

„Das ist leider falsch. Ich nenne es für Dich Wald, weil das, was Du sehen wirst für Dich ein Wald sein wird. Für mich und La im Übrigen auch. Aber es ist ein Lebewesen, auf dem wir gehen. Es ist ein Totius. Der Totius ist ein riesiger Organismus, mit einer Vielzahl von Parasiten, die auf ihm leben. Sie entwickelten sich gemeinsam mit ihm in einer Koevolution, so dass die Parasiten alles Nötige von ihrem Wirt bekommen, was sie zum Überleben benötigen. Im Gegenzug helfen die Parasiten ihm, Eindringlinge wie uns, am Weitergehen zu hindern. Dazu benutzen sie vielerlei Tricks, die ich Dir nicht alle nennen kann. Vielleicht werden einige Dir vorgaukeln jemand zu sein den Du liebst und versuchen Dich anzulocken. Wir werden vielleicht ein paradiesisch gelegenes Haus sehen, in das wir gehen möchten. Oder wir riechen etwas, was auf uns betörend wirkt. Der einzige Grund, warum sie dies tun, ist, weil wir eine Nahrungsquelle für den Totius darstellen! Er hält sie am Leben und dafür helfen sie ihm, dass er es bleibt.“ 

Mila war geschockt! „Ok, was hast Du gesagt? Wir laufen also unserem Verderben in den offenen Mund?“ 

Jonas lachte auf: „Ja, so in etwa. Aber keine Sorge. Ein Totius kann uns nicht gefährlich werden, solange wir in Bewegung bleiben. Ausruhen, hinsetzen oder gar schlafen allerdings wäre fatal. Er würde uns mit seinen Wurzeln anfangen zu fesseln, uns immer weiter einwickeln und uns irgendwann in sich hineinziehen.“ Jonas, der Mila mit seinen Worten eigentlich beruhigen wollte, spürte ihre Angst. Auch La schien ihre Unsicherheit zu spüren und bat Jonas sie zu Mila zu lassen. Es war das erste Mal, dass sie La berührte. Augenblicklich spürte Mila, wie sich alles in ihr beruhigte. Die Angst war nicht sofort völlig verflogen, aber in ihr breitete sich eine Ruhe aus, die sie noch nie zuvor gespürt hatte. 

„Bist Du das?“, fragte sie deshalb und La lächelte sie vorsichtig an. Fast als wolle sie sich dafür entschuldigen.

„Ich möchte Dir helfen, damit Du Dich nicht von Deiner Angst leiten lässt. Jonas hat Recht. Ein Totius, so furchterregend er auch für Dich klingen muss, ist für uns keine ernsthafte Gefahr. Es sind die Unglücklichen, die Suchenden oder Trauernden, die sich in seiner Nähe in Gefahr begeben. Sie sind angreifbar - mit Halluzinationen in die Irre zu führen.“ 

„Und dieses Grollen? Was war das?“, stellte Mila eine weitere Frage und sie bereute diese zutiefst, nachdem sie die Erklärung dazu hörte.

„Ja… das Grollen“, sagten beide wie aus einem Mund und schauten sich an. Jonas führte dann die begonnene Erklärung zu Ende: „Das ist etwas, was uns ein wenig Sorgen machen sollte. Der Totius hat Hunger und das Grollen ist ein Zeichen dafür, wie das Magenknurren bei uns. Die Parasiten werden darum vermutlich hochmotiviert sein, uns zu narren, damit wir den Wald nicht mehr verlassen. Versuche einfach sie zu ignorieren. La und ich sind bei Dir und werden Dich dabei unterstützen!“ Er sah in Milas bleichgewordenes Gesicht und La sagte, dass sie uns mal kurz allein lässt. Mila ließ sie hinunter und die kleine Liliput warf Jonas einen Blick zu, den Mila nicht deuten konnte und La nickte dem jungen Mann grimmig zu. Dann verschwand sie, fast so, als wolle sie mit dem was jetzt passieren würde, nicht zu tun haben wollen. 

Jonas ging auf Mila zu und nahm ihre Hände in seine. Er versprach ihr, dass ihnen nichts passieren würde. Dabei sah er ihr ganz tief in die Augen und sein Gesicht näherte sich dem von Mila. Die ließ es zwar zu, aber innerlich spürte sie eine Art Abneigung, die sie sich nicht erklären konnte. Seine Lippen berührten ihre, seine Augen ließen ihre nicht los. Alles in Mila sträubte sich, aber sie konnte nichts dagegen tun, als es zuzulassen. Sie fühlte sich benutzt, so als würde er gegen ihren Willen handeln. Ihr kam es wie eine Ewigkeit vor, bis sich seine Lippen endlich von ihren lösten. Nach wie vor hielt er ihren Blick fest und lächelte sie dann zaghaft an, fast schüchtern, aber die Selbstsicherheit, die sich dahinter verbarg, war für sie spürbar. Mila lächelte zurück, auch wenn sie ihm viel lieber eine Ohrfeige gegeben hätte.  Dann sagte sie schnell, dass sie nun lieber weiter gehen sollten und drehte sich zum Ausgang der Höhle. Ihre Angst hatte sie einfach vergessen.

„Eins noch“, hielt Jonas sie auf und Mila verdrehte instinktiv die Augen. 

La war zurückgekommen und Jonas half ihr hinauf, damit sie wieder auf seiner Schulter Platz nehmen konnte. „Im Wald gibt es eine weitere Gefahr. Ich weiß nicht, wie viele Hänger noch dort sind, viele dürften es aber nicht mehr sein. Trotzdem kann es sein, dass wir auch ihnen begegnen. Hänger sitzen meist hoch in Bäumen und lassen sich dann auf ihre Opfer fallen.“

„Ich möchte nicht wissen was die mit uns tun würden“, bat Mila.

Jonas grinste und sagte, das La auf Hänger achten würde, um sie vor ihnen zu warnen und Mila genügte das. Als die Drei aus der Höhle traten, war es ganz anders als zuvor bei der Wüste. Dort war der Übergang zu den steinigen Felsen eher langsam und stetig. Hier waren die Höhlen abrupt zu Ende und vor ihnen lag der Wald. Mila war so überrascht das sie stehen blieb und sich umsah. Das hatte sie nicht erwartet! „Das ist… das…“, stotterte sie drauf los.

„Schön was?“, beendete Jonas.

„Schön? Nein, es ist traumhaft! Ich habe einen düsteren Wald erwartet, aber das? Das schaut aus wie in einem Elfenwald! Fehlt nur noch das Einhorn!“

Begeistert ließ sie ihre Blicke über das, was da vor ihr lag, gleiten und es war fast unmöglich für sie, alles wahrzunehmen. Schmetterlinge in Lila, leuchtendem Gelb und Grün flatterten aus den Blüten der Bäume hervor. Die Blüten glitzerten, als wären sie aus Diamanten! Das Gras, was hier und da wuchs, war übersät mit den schönsten Blumen, die sie jemals gesehen hatte. Sie waren in wunderschönen bunten Farben, die allerdings nicht wild zusammengewürfelt aussahen, sondern eher so wirkten, als sei alles aufeinander abgestimmt. Ein leichter Wind irrte durch den Wald und trug allerhand Düfte zu ihnen herüber. Es roch verführerisch! Alles war perfekt. Vielleicht zu perfekt, aber das störte Mila nicht. Sie war absolut hingerissen, bis Jonas sprach: „Ich sagte ja, es wird Dir gefallen. Aber lass Dich davon nicht täuschen. Das ist der Totius und seine Parasiten, die Dir das vorgaukeln. In Wirklichkeit ist er nicht schön. Einmal habe ich den wahren Wald zu sehen bekommen und glaub mir…“

„Pscht…“, unterbrach sie ihn. „Lass uns den Wald genau so sehen wie er jetzt ist. Vielleicht kann ich dann, ohne panisch zu werden, auch diesen Weg hinter mich bringen!“

 

…Dir hat die Leseprobe gefallen? Tamieh – Licht & Schatten, jetzt überall wo es Bücher gibt bestellbar 

oder direkt hier ---> https://buchshop.bod.de/tamieh-yvonne-heidemann-9783758323492

 

 

 

© Urheberrecht. Alle Rechte vorbehalten. 

Wir benötigen Ihre Zustimmung zum Laden der Übersetzungen

Wir nutzen einen Drittanbieter-Service, um den Inhalt der Website zu übersetzen, der möglicherweise Daten über Ihre Aktivitäten sammelt. Bitte überprüfen Sie die Details in der Datenschutzerklärung und akzeptieren Sie den Dienst, um die Übersetzungen zu sehen.