Prolog
Stille beherrschte das südliche Tor. Obwohl es Tag war, erreichten die wärmenden Strahlen der Sonne diesen Teil Tamiehs nicht. Es war düster und kalt. Dichter Nebel zog durch die verlassenen Straßen und Gassen. Morastiger Boden hatte sich ausgebreitet und die einstmals so gepflegten Wege und Gärten in ein von Schlamm, Flechten und Pilzen beherrschendes Gebiet verwandelt. Ein dunkler Schatten zog seine Kreise und seine Augen leuchteten rot und unheilvoll, in der sonst so dunklen Umgebung.
Auf dem früheren Marktplatz standen etliche Gestalten in gebückter Haltung und hielten ihre Blicke auf den sich nähernden Schatten gerichtet. Ihre Gesichter spiegelten Entsetzen wieder und sie wirkten schmerzverzerrt. Das, was sich ihnen näherte, war von solcher Grausamkeit und niemand hätte das Wesen mit ihm in Verbindung gebracht.
Antrawu war entstanden, als Angst, Trauer und Wut in den Welten Dorsberge, Cormeum, Medusien und der Erde überhandnahm. Und natürlich dem alles miteinander verbindenden Element – Tamieh.
Die Seelen der Opfer aus den vier Welten und Tamieh hatten es wachsen lassen. Vor allem die Katastrophe, die Cormeum zerstörte, hatte wie eine explosive Kraft auf es gewirkt. Schon ohne ihn, war es kraftvoll und gefährlich geworden. Für ihn war es eher ein glücklicher Zufall, dass er herausgefunden hatte, dass er auch diese Kreatur beherrschen konnte und schon früh genug die Macht über es gewann. Sein Plan war ein anderer, aber er hatte sich der Situation anpassen müssen.
Der Schatten, der auf die nun vor ihm gepeinigten Wesen des südlichen Tors starrte, brüllte seine Forderungen hinaus - doch die Stille wurde davon nicht durchbrochen. Stattdessen wanden sich die Hörenden vor unglaublicher Pein, die ihre Körper erfasst hatte. Sie hielten sich die Ohren zu, schrien und stöhnten vor entsetzlicher Qual. Selbst die so anmutig und starken Kauscher unter ihnen, hatten keine Chance, sich diesem Monster zu widersetzen.
Die Stimme, die sie vernahmen war mit so infernaler Gewalt in ihre Köpfe eingedrungen, dass sie nichts entgegenzusetzen hatten. Gegen diese körperlose Macht konnten sie nichts tun.
Als sich Antrawu zum südlichen Tor zurückgezogen hatte, tat es das nicht allein und aus eigenem Antrieb heraus. Auch Antrawu folgte der Stimme und handelte in seinem Auftrag.
Der Nebel hatte sich so schnell ausgebreitet, das nur wenige es schafften zu entkommen. Die, die keine Chance hatten, wurden von ihm versklavt und mussten tun, was er von ihnen verlangte. Auch jetzt befahl er ihnen furchtbare Dinge. Er würde zu Ende bringen, was er begonnen hatte.
Sie hatten ihn getötet, aber auch wenn er jetzt über keinen physischen Körper mehr verfügte, seine Kräfte hatte er nicht eingebüßt. Im Gegenteil, er war stärker und machtvoller als je zuvor!
Begegnungen
Schon seit geraumer Zeit streifte er durch die einsame und wilde Umgebung des westlichen Teil Tamiehs. Er mied es anderen zu begegnen und zog es vor allein zu sein. Ulik hatte sich verändert und er fühlte sich zum ersten Mal in seinem Leben wirklich einsam. Das was er getan hatte, konnte er sich nicht vergeben.
Noch immer verfolgten ihn die Bilder der kleinen Gauserfrau, die in ihrem eigenen Blut und von seinen Klauenhänden und scharfen Zähnen so grauenvoll zugerichtet, auf dem Waldboden gelegen hatte. Er schüttelte den Kopf und versuchte diese Gedanken zu verscheuchen, nur um von einem weiteren übermannt zu werden: Mila!
Schon so oft hatte er sich gefragt, ob die Gefühle, die er für sie hegte, wirklich nur deshalb in ihm waren, weil er von Jonas beherrscht worden war und so auch dessen Zuneigung für Mila übernommen hatte. Aber was, wenn Lior unrecht damit hatte? Was, wenn seine Gefühle echt waren?
Selbst jetzt, nachdem Jonas tot war, konnte er die junge Frau einfach nicht vergessen. Der Gedanke an ihr Gesicht, ihren Körper, den sie so anmutig und geschmeidig bewegte. Erneut schüttelte er den Kopf. Ulik wollte nicht an sie denken. Würde er daran glauben, dass er Mila wirklich liebte, könnte es auch bedeuten, dass nicht Jonas ihn dazu gebracht hatte, Orsebar zu überfallen und zu töten. Vielleicht war er tatsächlich ein Monster.
Es hatte Ulik schon einige Male in Richtung Liors Haus geführt, ohne das er darauf geachtet hatte. Jedes Mal musste er sich zwingen umzudrehen und wieder in die Einsamkeit zu verschwinden. Ihm stand es nicht zu, sich im Kreis von Lior, Gwydion, Pirmin und schon gar nicht Mila aufzuhalten. Er widerte sich an und fragte sich nicht zum ersten Mal, wie er so weitermachen sollte. Ihm als Kauscher war das Alleinsein nicht unbekannt. Im Gegenteil, Kauscher liebten es. Aber dieses Gefühl von Einsamkeit war etwas anderes. Es zerfraß ihn innerlich und er fürchtete langsam den Verstand zu verlieren.
Sein Weg führte ihn durch die dichten Wälder im Westen und er nahm die Gerüche um sich herum tief in sich auf. Seine empfindsame Nase erkannte vieles, was dem Auge verborgen blieb und so witterte er das Hirko, bevor er es sah. Er hielt inne und ließ seinen Geruchssinn die Führung übernehmen. Er hatte Hunger und das große, recht träge Tier, würde für ihn eine gute Mahlzeit abgeben.
Leise schlich er nun durch das dichte Laub der vor ihm wachsenden Büsche. Er hielt sich versteckt, versuchte die bestmögliche Position zu bekommen, um das Hirko, das jetzt auch von ihm zu sehen war, zu erlegen.
Das dunkelbraun, gefleckte Huftier stand an einem kleinen Bachlauf und rupfte das saftige Gras, das hier besonders üppig wuchs, aus dem Boden. Es hob seinen Kopf, das von einem braunen, samtartigen Fell bedeckt war und auf dem karamellfarbene Flecken zu Mustern zusammenfanden. Seine großen, gelb-braunen Augen blickten sanftmütig durch den Wald, bevor es seinen Kopf wieder niedersenkte, um sich ein weiteres Bund Gras herauszuzupfen.
Ulik spannte seine Muskeln und sprintete los, seine gesamte Aufmerksamkeit nun auf das vor ihm fressende Tier konzentriert. In dem Moment wo er zum Sprung ansetzte, um sich auf das Hirko zu stürzen, hob es ruckartig den Kopf. Aber die Gelegenheit sich davon zu machen war schon vorüber. Ulik packte es und trieb seine langen Krallen in das Fleisch in dessen Rücken und seine Zähne gruben sich zeitgleich tief in den Hals, des sich nun panisch aufbäumenden Körpers. Ein letzter, entsetzlicher Schrei verließ seine Kehle, bevor es schlaff in sich zusammenfiel und Ulik mit sich riss. Der ließ noch im Fall von dem Hirko ab und stand nun vor dessen leblosen Körper. Einen kurzen Augenblick hatte er wieder Orsebar vor Augen, deren Bild er wütend schnaubend abschüttelte. Der Geruch von Blut kroch in ihn hinein und er stürzte wieder auf das am Boden liegende Tier, in das er erneut seine Zähne stieß. Mit einem starken Ruck, riss er ein Stück Fleisch hinaus und Blut tropfte aus seinem Mund. Von Raserei gepackt, zerriss er den Körper förmlich und fühlte sich immer mehr wie ein wildes Tier. Er fraß das rohe Fleisch und spürte ein nahezu unbändiges Verlangen nach mehr.
Erst als er die Reste des Hirkos mit Erde und Laub im Waldboden verscharrt hatte, ließ er sich erschöpft zu Boden sinken. Seine Hände fuhren durch seine Haare und hinterließen eine klebrige Spur aus geronnenem Blut.
Eine Zeit lang blieb er unbeweglich und mit geschlossenen Augen liegen. Das Jagen, auch wenn es in diesem Fall eine sehr kurze Hatz gewesen war, forderte ihm alles ab. Er fühlte sich gesättigt, aber ermattet und wollte einfach nur einen Moment ausruhen.
Er hob ruckartig den Kopf und sah sich um. Hatte er Stimmen gehört? Er war sich nicht sicher. Langsam setzte er sich auf, ließ seine Augen die Umgebung absuchen und mit seiner Nase die zu ihm getriebenen Gerüche aufnehmen. Erschrocken zuckte er zusammen, sprang auf und rannte in gebückter Haltung in einige Büsche, die dicht zwischen einigen Bäumen wuchsen.
***
„Mila, bitte…“, es war ein flehender Unterton in Gorobalds Stimme und er versuchte mit der vor ihm laufenden jungen Frau mitzuhalten. Gorobald war groß und von muskulöser Gestalt. Ein genervter Ausdruck hatte sich in seinem Gesicht ausgebreitet, das von Narben übersät war. Die größte verlief quer über sein Gesicht und hatte nur knapp sein Auge verfehlt. Er hatte sie in den vielen Kämpfen aus seiner Welt Dorsberge erhalten, aber einige waren auch neu hinzu gekommen. Sie waren die Überbleibsel ihres Kampfes gegen Loisus.
Die junge Frau, deren Weg sie zielstrebig durch den Wald führte, lächelte.
„Gorobald, wir sind doch bald da! Seit wann hast Du so wenig Ausdauer?“, fragte sie ihn lachend. Ein Rascheln neben ihr ließ sie kurz zusammenfahren, dann aber, lief sie ungerührt weiter.
„Warum müssen wir denn unbedingt dorthin? Du hättest es Dir doch auch am Nordtor besorgen können“, widersprach er.
Mila blieb stehen und drehte sich um. Sie sah Gorobald tief in die Augen und schüttelte den Kopf: „Nein, das hätte ich nicht und das weißt Du auch! Es gibt am Nordtor oder dessen Umgebung keine Schattenwurzel!“
Sie schaute sich um und wieder dachte sie, wie atemberaubend die Pflanzenvielfalt hier war. Überall wuchsen exotische Bäume, deren Rinde in den verschiedensten Farben schimmerte. Leuchtende Pilze in allen erdenklichen Formen und Größen, die den Boden mit einem sanften Schein erhellten. Farbenfrohe Blütensträucher säumten den Pfad, und ihre süßen Düfte füllten die Luft. In der Nähe raschelte es wieder und sie schaute auf den dichten Busch, aus dessen Richtung das Geräusch gekommen war. Da sie nichts Ungewöhnliches entdeckte, wandte sie sich wieder Gorobald zu.
Der sah sie liebevoll an und grinste schief. „Vielleicht hättest Du es auf dem Markt bekommen oder Du hättest einfach Murr darum bitten können, es zu besorgen“, sagte er nun und Mila rollte genervt die Augen.
„Ja, ganz sicher hätte ich das tun können, aber dann hätten wir all das…“, und dabei fuchtelte sie wild mit den Armen herum und deutete auf die anmutigen Bäume, deren Äste sich sanft im Wind wiegten. Die Baumstämme waren mit bizarren Mustern verziert, von leuchtendem Grün bis hin zu lebhaftem Blau. Lianen schlängelten sich herab und bildeten grüne, lebendige Brücken zwischen den einzelnen Bäumen. „…nicht genießen können! Außerdem hätte ich auch alleine gehen können, denn Schattenwurzel muss nämlich von dem geerntet werden, der sie verwenden möchte. Das hat Orsebar immer wieder gesagt, also halte ich mich daran.“
Bei dem Gedanken an ihre liebe Freundin, wurde sie von Traurigkeit erfasst. Die Gauserfrau fehlte Mila sehr und noch immer machte sie sich Vorwürfe, dass sie sie allein gelassen hatte. Vielleicht hätte sie Ulik von der grauenvollen Tat abbringen können, überlegte sie immer wieder.
Gorobald bekam davon nichts mit, sondern lachte und zog sie an sich. Dann gab er ihr einen langen Kuss, den Mila erwiderte.
„Du hast Recht. Ich sage nichts mehr. Trotzdem sind wir noch weit entfernt vom westlichen Tor und ich denke, dass wir bald eine lange Pause einlegen sollten, bevor wir weiter gehen. Das ist nicht mal kurz einkaufen, wie in Deiner Welt Mila! Außerdem solltest Du Dich ein bisschen mehr schonen.“
Sie zog einen Schmollmund und tat beleidigt. Zwar war sie schon eine ganze Zeit in Tamieh, aber die Größe unterschätzte sie noch immer. Wahrscheinlich hatte er Recht und sie würden sich schon bald etwas Ruhe gönnen müssen. Spätestens am Westtor.
***
Ulik, der sich in den Büschen versteckte, konnte es kaum fassen. Da waren sie, Mila und Gorobald, nur wenige Schritte von ihm entfernt. Mila sah in diesem Moment atemberaubend aus. Ihre Wangen waren gerötet, vermutlich von der anstrengenden Wanderung durch den Wald. Ihr Haar fiel in sanften Wellen über ihre schmalen Schultern und ihre strahlenden Augen leuchteten vor Freude.
Ulik hatte das Gefühl sich in ihrem Anblick zu verlieren. Er schluckte schwer und spürte, wie eine Welle der Eifersucht langsam in ihm aufzusteigen begann. Wie konnte es sein, dass Gorobald diese zauberhafte Frau für sich gewonnen hatte?
Als sich die beiden Liebenden immer weiter von ihm entfernten, konnte Ulik die Eifersucht kaum noch ertragen. Er fühlte, wie sein Verstand mit ihm spielte, ihm immer wieder Bilder von den Beiden zusammen vor Augen führte. Es war, als würde ihm jemand ein Messer in sein Herz rammen und wild darin herumstochern.
Die Zeit schien stillzustehen, während Mila und Gorobald langsam ihren Weg fortsetzten. Ulik spürte, wie jede Sekunde wie eine Ewigkeit verging. Er musste sich zwingen, ruhig zu atmen und seinen Impulsen nicht nachzugeben. Es war eine wahre Tortur für ihn. Sein Wesen wollte diesen Krieger beseitigen, aber dann erinnerte er sich an den Grund, weshalb er sich überhaupt hier versteckt hatte und er zwang sich, seinen Blick von ihr und Gorobald, abzuwenden.
***
Der Weg führte Mila und Gorobald durch einen teilweise recht wilden Teil Tamiehs. Hier, mitten im Wald, noch weit entfernt von irgendeiner Siedlung, fühlte Mila ein absolutes Gefühl von Freiheit. Sie musste einfach raus aus Liors Haus, in dem sie und Gorobald nun wohnten, bis das hier vorbei war. Ihre Schwangerschaft war noch am Anfang und nur langsam deutete sich eine kleine Wölbung an ihrem Bauch an. Unbewusst streichelte ihre Hand darüber und Gorobald, der sie beobachtet hatte, grinste breit. Er war so von Stolz erfüllt und fühlte sich dankbar und glücklich, Mila an seiner Seite zu haben. Noch dazu wo sie sein Kind in sich trug! Den Gedanken, dass das nicht für immer sein konnte und durfte, verdrängte er erfolgreich.
Er legte seinen Arm um ihre Taille und seufzte zufrieden. Milas Blick wanderte zu ihm und ein Lächeln umspielte ihre vollen Lippen. Anders als Gorobald, wusste sie, was auf sie beide zukommen würde. Der Gedanke machte sie traurig, hatte sie entsetzt als Lior ihr erzählt hatte, was die neuesten Entwicklungen für Gorobald, das ungeborene Kind und vor allem sie selbst bedeutete. Es hatte sie bis ins Mark getroffen, aber sie wollte und musste stark sein. Auch sie traf eine große Mitschuld an dem, was passiert war und sie wollte dafür geradestehen und alles tun, damit wieder eine gewisse Ordnung entstehen konnte. Auch wenn dieser Preis verdammt hoch war. Bis dahin aber würde sie die Zeit, die ihr mit Gorobald blieb, so intensiv nutzen, wie sie konnte.
Der Wald verströmte eine Aura von Ruhe und Harmonie. Das leise Rauschen der Blätter und der sanfte Gesang der Vögel, schufen eine beruhigende Atmosphäre. Jeder Schritt von Mila und Gorobald wurde von einem sanften Knirschen begleitet, als sie über das mit Moos bewachsene Erdreich gingen.
Sie erreichten eine kleine Lichtung am Rande des Waldes und der Geruch von frischem Gras, Blumen und von feuchtem Waldboden drang in ihre Nase. Sie atmete tief ein und genoss die reine Luft.
Auf der anderen Seite sahen sie eine kleine, hölzerne Hütte und Gorobald entschied, dass sie dort nachsehen sollten, ob sie leer stand.
Mitten durch die Lichtung wandte sich ein kleiner, glitzernder Bach, dessen Wasser so klar war, dass man die glänzenden Steine am Grund erkennen konnte.
Der Boden der Lichtung war bedeckt von einer Vielzahl an seltsamen, aber wunderschönen Blumen. Ihre Blüten besaßen die unterschiedlichsten Formen und Farben. Von zarten, weißen Blütenblättern mit goldenen Verzierungen bis hin zu riesigen, roten Blüten mit pulsierenden Adern. Mila und Gorobald schritten über die Lichtung auf das Haus zu. Jeder Schritt, führte sie durch ein Meer aus Blumen und ließ herrliche Düfte aufsteigen.
Vor dem Haus angekommen, ging Gorobald zielstrebig zur Tür, während Mila mit etwas Abstand stehengeblieben war. Sie ließ ihren Blick über die Hütte streifen, fasziniert von dem was sie sah. Von außen wirkte sie wie ein wildes Durcheinander von verschiedenen Materialien und Farben. Das Dach war mit Stroh gedeckt, das die Zeit in ein warmes, erdiges Braun verfärbt hatte. Die hölzernen Wände zeigten deutliche Zeichen ihres Alters, mit Schrammen hier und da. Ein Fenster, das eher wie eine unregelmäßig geformte Öffnung aussah, war von Ranken wilder Blumen, die sich anscheinend ihren Weg durch den Rahmen und die Wand gebahnt hatten, umschlungen.
Gorobald klopfte kräftig gegen die Tür und wartete. Seine Hand lag auf dem Griff seines Schwertes. Auch wenn er keine wirkliche Gefahr erwartete, wollte er nicht unvorsichtig werden.
Als sich auf sein Klopfen nichts rührte, versuchte er es ein zweites Mal. Als auch diesmal weder etwas zu hören war noch die Tür geöffnet wurde, nahm er den Türgriff in die Hand, drehte ihn und schob die Tür auf.
Sie betraten die Hütte und tauchten in eine andere Welt ein. Der Innenraum war erstaunlich geräumig und mit einer Vielfalt an ungewöhnlichen Dingen gefüllt. Sonnenlicht drang durch die Fensteröffnung und ließ den Raum in freundlichem Licht erstrahlen. Der Boden bestand aus glatten Holzplanken, die stellenweise knarrten, wenn man darüber ging. Ein angenehmer Duft von frischer Erde und Holz lag in der Luft. Die Wände waren mit Regalen bedeckt, auf denen unzählige Gegenstände in bunter Unordnung standen. Es schien, als hätte jeder noch so kleine Platz genutzt werden müssen, um all die Schätze aufzubewahren. Auf einem schmalen Holzbrett standen kleine Kerzenleuchter, kunstvoll geschnitzt aus verschiedenen Hölzern und mit winzigen Edelsteinen verziert.
Neben den Kerzenleuchtern gab es auch eine Ansammlung von seltsamen, teils uralten Werkzeugen an der Wand. Alte Schlüssel, die offensichtlich schon viele Türen geöffnet hatten, hingen an einem ebenso beeindruckenden Schlüsselbrett. Daneben schmiedeeiserne Haken, die aus der Wand ragten und wahrscheinlich schon so manches schwere Objekt getragen hatten.
In einer Ecke der Hütte stand ein alter, knarzender Schreibtisch, bedeckt mit Stapeln von Büchern und Notizen. Ein kleines Tintenfass, das fast leer war, versteckte sich zwischen den Papieren. Glocken und kleine Glockenspiele hingen an den Wänden und warteten darauf, von neugierigen Händen berührt zu werden, um ihre melodiösen Klänge freizusetzen.
Das Zentrum des Raumes wurde von einem großen, altertümlichen Kamin beherrscht. Über ihm hing ein gewaltiges Geweih, bedeckt mit funkelnden Kristallen und bunten Bändern. Ein paar bequeme Sessel standen in der Nähe des Kamins, gemütlich mit bunten Kissen und kuscheligen Decken ausgestattet.
Alles in allem, strahlte die kleine Waldhütte einen charmanten, heimeligen Charme aus.
„Sieht nicht aus, als wäre es unbewohnt“, flüsterte Mila leise und ihr Blick fiel auf eine Tür, die sich an der gegenüberliegenden Wand befand und geschlossen war.
„Warte hier“, bat Gorobald und ging auf die Tür zu. Er klopfte auch diesmal, wartete aber nicht, ob eine Reaktion kam, sondern öffnete die Tür. Dahinter lag ein gemütlich eingerichteter Schlafraum, der aber ebenfalls leer war.
Mila trat näher und ein angenehmer Geruch nach Holz und einem Hauch von Lavendel empfing sie.
In der Mitte des Raumes stand ein rustikales Holzbett, das mit weichen Kissen und einer dicken Daunendecke übersät war. Das Bett hatte ein kunstvoll geschnitztes Kopfteil.
Die Wände des Schlafraums waren mit handgewebten Teppichen geschmückt und an der Decke befand sich ein prächtiger Kerzenleuchter, der aus Geweihen von Tieren gefertigt war.
„Gorobald, wir sollten gehen. Es sieht aus, als wären die Bewohner nur kurz weg und nicht, als wäre es hier verlassen“, sagte Mila ein weiteres Mal.
Gorobald drehte sich zu ihr um und grinste. Dann nahm er den Rucksack ab, lief an ihr vorbei und stellte ihn auf einen der Sessel.
„Wir bleiben hier, die Hütte steht leer. Du brauchst dringend eine Pause und ich könnte auch eine gebrauchen“, sagte er überzeugt.
Mila kam aus dem Schlafraum hinter ihm her. „Wie kannst Du Dir so sicher sein? Sieh Dich doch mal um“, sagte sie einwendend.
„Genau das habe ich getan, Mila. Dort hinten auf dem Tisch steht vollkommen verdorrtes Obst und an dem Brot knabbern bereits Mäuse. Der kleine Garten, neben der Hütte, ist vollkommen verwildert und die Hütte hatte sicherlich auch schon bessere Tage. Die Staubschicht auf den Regalen ist so dick, dass es schon fest wird. Hier lebt niemand mehr, ganz sicher.“
Mila schaute erstaunt auf. Sie war so davon abgelenkt, wie es hier aussah, dass sie auf solche Hinweise überhaupt nicht geachtet hatte.
Nun entspannte sie sich und ließ sich in einen der Sessel fallen, der sie daraufhin in einer Staubwolke einhüllte, weil der Schwung die dicke Staubschicht aufgewirbelt hatte.
Gorobald lachte lauthals auf und Mila hustete, wedelte mit den Armen den Staub fort und betrachtete ihn mit wütend funkelnden Augen. „Ich hol Feuerholz“, unterbrach Gorobald die noch immer hustende und fluchende Mila mit einem Grinsen. „Und dann mache ich uns etwas zu essen. Draußen im Bach hab ich ein paar Fische gesehen und ich hab Brot und Spudoria* mitgenommen. Vielleicht könntest Du mal draußen schauen, ob der Brunnen noch Wasser führt.“
Mila schaute ihn an und nickte müde. Dann stand sie auf, schaute sich suchend um und schnappte sich einen großen Krug, der auf einem der Regale stand.
Zusammen verließen sie die Hütte und Mila ging zum Brunnen an der Seite. Gorobald stapelte sich indes Holz auf den Arm, das neben einem Hackklotz gestapelt lag und ging damit wieder hinein.
Mila beugte sich über den Brunnenrand und schaute hinunter. Sie starrte hinab in die dunkle Tiefe, auf ihr Spiegelbild, das sich auf der ruhigen Wasseroberfläche spiegelte. Eine schöne junge Frau blickte ihr entgegen und ihr fiel auf, dass sie sich verändert hatte. Jegliches kindliche war aus ihrem Gesicht verschwunden und von der unschuldigen Ausstrahlung ihres früheren Ich war nichts mehr zu sehen. Die Zeit und die Erlebnisse hatten ihren Tribut gefordert.
Sie griff sich den Eimer, hakte das Seil ein und ließ ihn langsam hinab in die Tiefe. Er füllte sich rasch mit dem wunderbar klaren Wasser und Mila zog ihn langsam wieder nach oben. Eine Weile später hatte sie den Eimer wieder sicher an der Oberfläche und füllte das Wasser in den Krug.
Ihr Blick wanderte zum Waldrand auf der anderen Seite der Lichtung und sie erstarrte. Dort zwischen den Bäumen stand Ulik und blickte in ihre Richtung.
Ihr Herz machte einen Sprung. Mila schaute schnell in die Hütte, in der sie Gorobald sah, der dabei war ein Feuer zu machen und ging langsam auf Ulik zu. Sie hob ihre Hand und winkte. So lange schon, hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Daher das die Zeit in Tamieh so unmöglich verging, hatte sie das Gefühl es wären schon Monate vergangen, seit er verschwunden war. Er fehlte ihr und dass er nun hier vor ihr stand, erfüllte sie mit echter Freude. Sie wollte zu ihm gehen und ihn endlich wieder in ihre Arme schließen.
Uliks Blick war, als er sah, dass Mila ihn entdeckt hatte, zuerst liebevoll, dann überrascht und verhärtete sich dann plötzlich. Ohne auf ihr Winken zu reagieren, drehte er sich abrupt um und verschwand im Wald.
Mila blieb stehen und schaute ihm verletzt nach. Warum lief er vor ihr weg? Warum hatte er nicht auf sie gewartet? Vermisste er sie denn gar nicht?
„Mila?“, hörte sie hinter sich Gorobald und drehte sich um. „Alles in Ordnung?“ fragte er.
„Ja alles ok“, sagte sie und lächelte ihn gequält an. Dann ging sie zurück in die Hütte, um das Wasser abzustellen und entschied, dass sie Gorobald nichts davon erzählen würde.
Blind
Lior lief den Smaragdweg am Nordtor entlang. Er konnte das leere Haus nicht ertragen und wollte über den Markt schlendern, in der Hoffnung, er würde auf etwas stoßen was ihn ablenken könnte.
Er betrat den großen Platz, dessen Mitte vom Brunnen eingenommen wurde und dessen Wasserfontänen, die leise vor sich hin plätscherten, eine beruhigende Wirkung auf ihn hatten. Sein Blick wanderte zum Haus der Alten. Er zuckte mit den Schultern und lief darauf zu. Doch je näher er kam, umso beunruhigter wurde er. Noch konnte er nicht benennen, was diese Unruhe in ihm auslöste, aber als er seinen Blick über die Alten und deren Arbeit schweifen ließ, wusste er was ihn so irritierte. Während die Alten Dorsberges, Medusiens, der Erde und Tamiehs ihre Arbeit erledigten, schaute die aus Cormeum starr vor sich hin. Auch sie hatte ihre Stricknadeln in der Hand, aber sie tat nichts. Dann schaute er auf die Alte Tamiehs. Zwar strickte sie, aber das Ergebnis hatte starke Löcher. Nein, dachte er, es fehlen Teile!
Verwirrt schüttelte er den Kopf und dachte nach. Das musste mit diesem Nebel zusammen hängen, diesem Antrawu. Es hatte sich zum Südtor zurückgezogen und verharrte dort, ohne dass jemand dieser dichten Wand zu nahe kommen konnte. Gwydion und Pirmin hatten es versucht, mussten aber schließlich aufgeben, da dieser Nebel sie in regelrechte Panik versetzt hatte.
Auch die ehemaligen Bewohner, die es noch rechtzeitig aus dieser Gegend raus geschafft hatten, konnten nichts Wirkliches darüber sagen. Sie hatten Angst verspürt und von absolutem Grauen erfüllt, waren sie einfach nur fort gerannt, in der Hoffnung diesem Ding zu entkommen.
Lior hob seinen Kopf und schaute in den Himmel hinauf. Seine Hand fuhr durch seinen langen Bart und er dachte an Loralda. Tränen sammelten sich in seinen Augenwinkeln und er wischte sie langsam fort. So viel war geschehen und wie es aussah, war es noch lange nicht vorbei. Zum wiederholten Mal fragte er sich, ob er selbst es war, der diese Entwicklungen zu verschulden hatte. Was hätte er anderes tun sollen? War es ein Fehler gerade diese Vier auszuwählen? Oder hätte er damit rechnen müssen, wie so junge Menschen unter Umständen sein konnten. Hätte er damit rechnen müssen, dass sie sich ineinander verlieben könnten? Er hatte an all diese Dinge keinerlei Gedanken verschwendet und bereute dies nun zutiefst. Gerade er, hätte auch das in Betracht ziehen müssen.
Lior fragte sich, ob der Schlüsselmeister, der am Südtor sein zu Hause hatte, wohl noch lebte. Er hatte nicht zu den Geflüchteten gehört und niemand wusste, was mit ihm geschehen war. Aber gerade jetzt sehnte sich Lior danach, ihn aufzusuchen. Alles war so durcheinander geraten, dass er nicht mehr wusste, was er tun sollte. Ein Gespräch hätte ihm vielleicht eine neue Sichtweise ermöglicht.
Er schaute auf die Alte Medusiens und erschauderte. Die Fäden, mit denen die Alte strickte, hatten zwar noch Farbe, wirkten aber als hätten sie einen öligen Schimmer. Er wusste nicht was das zu bedeuten hatte, aber irgendwas musste er unternehmen.
***
Gwydion konnte es kaum glauben, dass Pirmin sich derartig Mühe gab, um Signe zu beeindrucken. Er rollte genervt mit den Augen und schüttelte den Kopf. Doch gleichzeitig konnte er sich ein kleines Schmunzeln nicht verkneifen.
Pirmin demonstrierte Signe gerade seine Geschicklichkeit und Schnelligkeit. Er sprang elegant über Baumstämme und lief geschmeidig durch den Wald, während er seine Klauenhände gekonnt einsetzte, um sich an Ästen festzuhalten. Seine kraftvollen Beine ermöglichten ihm, große Distanzen mit Leichtigkeit zurückzulegen. Gleichzeitig gab er laute, eindrucksvolle Rufe von sich, um seine Stärke und Männlichkeit zu betonen. Pirmin hoffte, dass seine athletischen Fähigkeiten und sein wildes Naturell auf Signe Wirkung zeigen würden.
Gwydion war beeindruckt von ihm und musste zugeben, dass es tatsächlich eine charmante Art war, um seiner Schwester Aufmerksamkeit zu schenken. Dennoch konnte er nicht anders, als sich ein wenig darüber lustig zu machen.
„Na toll“, murmelte Gwydion sarkastisch. „Jetzt müssen wir uns wohl alle warm anziehen, damit wir nicht vor lauter Romantik erfrieren.“
Pirmin ignorierte Gwydions Kommentar, während Signe ihrem Bruder einen warnenden Blick zuwarf.
Sie beobachtete nun wieder Pirmin mit großen Augen, fasziniert von seiner Geschicklichkeit und Hingabe.
Gwydion seufzte und schüttelte den Kopf. Mach Dir keine Mühe, Pirmin, dachte er bei sich. Sie ist schon lange beeindruckt von Dir. Er lachte leise.
Signe, die längst ihr Herz an Pirmin verloren hatte, klatschte begeistert und lief zu ihm, um ihn zu umarmen. Der atmete schwer, aber mit einem stolzen Lächeln auf den Lippen.
„Auf Dich, Pirmin“, sagte Gwydion nun ironisch und hob sein Glas, „möge Signe für immer von Dir verzaubert sein.“
Pirmin wandte den Blick kurz von Signe ab und grinste Gwydion an. „Danke, Kumpel. Ich mache das aber alles nur für Dich“, antwortete er mit einem Augenzwinkern.
Gwydion schüttelte den Kopf, lachte auf und prostete Pirmin erneut zu. Er erhob sich, wollte den Beiden ihre Zweisamkeit gönnen.
Sein Weg führte ihn ins Haus, wo er seine andere Schwester, Solveig, vorfand. Sie saß am Fenster und schaute hinaus, Pirmin und Signe beobachtend.
Gwydions Blick wurde weich, er wusste das sie innerlich litt und die Zurückweisung, die sie von Ulik erfahren hatte, sie hart getroffen hatte. Ulik, dachte er, wo verdammt steckst Du?
„Solveig“, begann er leise, „vielleicht solltest Du Dich zum Nordtor aufmachen, dort auf den Markt gehen. Frey und Ragnar sind dort. Es sind zwei wirklich prächtige Kauscher. Einer von ihnen…“
„Hör auf Gwydion“, unterbrach ihn Solveig, „ich bin nicht interessiert.“ Dann seufzte sie leise und schaute zu ihrem Bruder. „Stimmt etwas nicht mit mir?“, fragte sie leise.
Gwydion schritt auf sie zu und nahm sie in die Arme. Solveig war eine wunderschöne Kauscherfrau, mit traumhaft langen, blonden Haaren. Ihre gebräunte Haut und die goldfarbenen Augen, wurden von atemberaubenden Wimpern eingerahmt. Sie hatte eine muskulöse, aber dennoch sehr weibliche Figur. Für eine Kauscherin hatte sie überraschend kleine Hände, die allerdings genauso von Klauen besetzt waren, wie bei allen anderen.
Gwydion verstand nicht, was Ulik an Mila fand und warum er Solveig keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Er seufzte schwer, bevor er ihr antwortete.
„Du bist perfekt Sol…“, begann er, wurde aber ein weiteres Mal von ihr unterbrochen: „Warum ist er dann weggegangen? Ohne mich?“
Solveig fühlte sich überwältigt von ihren Emotionen und der inneren Unruhe, die in ihr tobte. Die Frustration und Verzweiflung hatten ihren Höhepunkt erreicht und sie wusste nicht mehr, wie sie damit umgehen sollte. Ihre Hände legten sich über ihr Gesicht und sie ließ ihren Tränen freien Lauf.
Gwydion konnte spüren, wie sich seine Adern mit wachsender Wut füllten, als er seine Schwester so sah. Es war, als ob Flammen in seinem Inneren entfacht wurden. Er kannte Ulik schon seit seiner Kindheit und hatte ihm vertraut. Aber als er Solveig so aufgelöst in seinen Armen hielt, hätte er am liebsten seine Fäuste in Uliks arrogantes Gesicht geschlagen. Aber Ulik war fort und Gwydion war es bisher nicht gelungen, seine Fährte aufzunehmen.
***
Das Wesen glitt über den morastigen Boden auf das geöffnete, südliche Tor zu. Sein Blick war auf die Personen gerichtet, die sich auf den Weg in Richtung Cormeum gemacht hatten.
Er war von Nebel umgeben, der sich mittlerweile auch in den Bergen und bis durch die südliche Wüste Eznergs ausgebreitet hatte. Er führte wie ein Wegweiser, bis zur Grenze Cormeums.
Das Wesen, das aus den Schatten hervortrat, war von einer unwirklichen Schönheit, die nur in einem Albtraum existieren konnte. Aus den dunklen Waben, die seinen undefinierbaren Körper bedeckten, formte sich langsam eine Fratze, verzerrt und entstellt.
Die grotesken Formen, die auf seiner Oberfläche auftauchten, schienen sich ständig zu verändern, eine ständige Metamorphose des Bösen. Die zerfurchte Haut des Wesens war von dunklem Schatten durchdrungen, der wie wirbelnde Strudel aus Verzweiflung und Schmerz aussah.
Dann, als sich die Fratze des Wesens weiter bildete, wurden überdimensionale Augen sichtbar, die rot wie die Feuer der Hölle brannten und einen Blick hatten, der bis ins Innerste der Seele drang. Dieser Blick war gewaltig, intensiv und voller Hass, als ob jede Faser des Wesens in finsterer Bosheit und Rache ertränkt wäre.
Die Abscheulichkeit wurde mit jedem Moment immer unheimlicher und monströser. Sein riesiger, entstellter Mund riss sich auf und offenbarte dolchartige Zähne, die wie scharfe Klingen aussahen. Eine krankhafte Gier nach Schmerz und Leid spiegelte sich in den zerstörerischen Kiefern wider.
Während das Wesen unaufhaltsam aus den Schatten herauskroch, durchdrang ein fast ohrenbetäubendes Heulen die Luft. Die Schreie, die wie ein düsteres Lamento durch die Dunkelheit hallten, vermischten sich mit dem Klang von verzweifeltem Weinen.
Es war ein Wesen der Finsternis, das seine Opfer mit unendlichem Hass und grenzenloser Bösartigkeit verfolgte.
In Verbindung mit Jonas, war es zu einer Waffe der Dunkelheit geworden. Eine Abscheulichkeit, der niemand entgehen konnte und den selbst den Mutigsten in Angst und Schrecken versetzte. Sein durchdringender Blick war unaufhörlich auf die Personen gerichtet, denen er ohne Unterlass seine Befehle in die Köpfe feuerte.
Die gepeinigten Wesen liefen in geduckter Haltung über die weitläufige Wiesenlandschaft, die sich vor ihnen ausbreitete. Der dichte Nebel ging ihnen voraus und sie folgten ihm, konnten der Macht dieser Stimme nicht entfliehen.
An der Spitze der Gruppe ging ein Mann in gerader Haltung. Geradezu würdevoll schritt er voran. Seine purpurfarbene Robe war mittlerweile schmutzig und feucht. Ein goldener Gürtel mit winzigen Werkzeugen und wundervollen Schlüsselrolingen, vervollständigte seine Garderobe. Er hatte ein von Falten durchzogenes Gesicht und er wirkte uralt. Sein graues, langes Haar, klebte ihm am Kopf und seine dunkelblauen Augen schauten stur geradeaus. Sein Name war Levin, er war der Schlüsselmeister des Südtors und stellte die Schlüssel her, mit denen man Zugang zu den Welten Dorsberge, Medusien, Cormeum und Erde hatte. Dieses Ding… dieses Monster hatte ihn dazu gezwungen, weitere Schlüssel anzufertigen. Seine Hände waren blutig und mit Schwielen übersät. Die Arbeit mit den winzigen Werkzeugen war nicht leicht gewesen und noch nie hatte er so viele auf einmal anfertigen müssen. Auch wenn seine eigenen Gedanken von denen dieses Wesens übermannt worden waren, hatte er tief in sich noch nicht aufgegeben. Sein Verstand versuchte an die Oberfläche zu gelangen, wie ein Ertrinkender aus einem düsteren Gewässer. Er durfte nicht zulassen das diese Kreatur versuchte, ihn zu einer furchtbaren Tat zu zwingen. Er als Schlüsselmeister hatte eine Verantwortung gegenüber der vier Welten und Tamieh. Er musste kämpfen und auch wenn er erschöpft war, durfte er die Dunkelheit nicht in den Triumph führen. Seine Augen suchten verzweifelt in der Umgebung und er hoffte, dass er in der Lage sein würde, eine Lösung zu finden, um diesem mächtigen Wesen zu entkommen.
Er war nicht der Einzige, der sich noch nicht geschlagen geben wollte. Nur wenige Meter hinter Levin lief Sverrir, ein Kauscher, der sich nur rein zufällig in der Gegend des Südtors aufgehalten hatte und von Antrawu überrascht wurde, als er gerade im Jagdfieber war. Er war so auf den vor ihm stehenden Korgo fixiert, dass er den Nebel nicht hatte kommen sehen. Als das Gefühl von Panik ihn ergriffen hatte, war es bereits zu spät und er fiel in sich zusammen, ohne den Hauch einer Gelegenheit, reagieren zu können.
Nun lief er mit den anderen Bewohnern des Südtors in Richtung Cormeum und in seinem Kopf arbeitete es wie wild. Auch er war wie von unsichtbaren Fesseln an diesen Nebel gebunden worden und konnte seinen Willen nicht über den dieser Kreatur stellen. Er schaffte es nicht, seinen Körper zu zwingen, einen anderen Weg einzuschlagen und so lief er wie eine Marionette geführt weiter. Aber genau wie Levin, war er nicht bereit aufzugeben.
Sverrir war ein muskulöser und durchtrainierter Kauscher. Er hatte markante Gesichtszüge und goldene Augen funkelten wütend aus seinem schönen Gesicht. Ein Backenbart gab ihm etwas wildes und seine scharfen Reißzähne hatte er gebleckt, so dass es wie ein irres Grinsen wirkte. Es zeigte die Anstrengung, die es ihn kostete, sich gegen Antrawu aufzubäumen.
Bald würden sie das Eisenkamm-Gebirge erreichen, das unüberwindbare Gebirge, wie es auch genannt wurde. Anders als am Nordtor der Totius, der die Höhlen und Tamieh voneinander trennte, war es am Südtor dieses Gebirge. Der Weg würde sie steil nach oben führen, immer höher hinauf bis am Ende der Gipfel zu erreichen wäre, wo ein Wächter auf sie warten würde. Aber der Weg dorthin war von so vielen Hindernissen umgeben, dass die meisten früher oder später einfach aufgaben. Das Eisenkamm-Gebirge war kein einfaches Gebirge. Hatte man es einmal betreten, sah man rings um sich herum nur noch Berge, tiefe Schluchten und gefährliche Aufstiege. Man unterlag natürlich einer Täuschung, aber das musste man seinem Verstand erst einmal klar machen. Würde man rückwärts zurück gehen, hätte man schnell wieder das saftige grün einer wunderschönen Lichtung unter den Füßen. Zumindest bevor Antrawu das Südtor überwältigt hatte. Jetzt wirkte die Lichtung trüb und grau und das grün der Wiesen und die Farben der Blumen erschienen trostlos.
Fieberhaft versuchte Sverrir eine Schwachstelle in der unbeschreiblichen Kraft zu finden, die ihn nach vorne trieb. Sein Blick fiel auf den Schlüsselmeister und erst in diesem Moment wurde ihm bewusst, wen er da vor sich hatte. Die Verzweiflung in ihm wuchs ins unermessliche, als ihm die damit verbundene Gefahr klar wurde. Was hatte dieses Wesen vor? Es konnte kein Zufall sein, dass gerade Levin ihre Gruppe anführte. Diese Kreatur verfolgte eindeutig einen Plan und Sverrir war nicht bereit, ihn dabei kampflos zu unterstützen. Er musste etwas tun, bevor sie Cormeum erreichen würden.
Enthüllung
Es war ihm eigentlich zuwider sie zurückholen zu müssen, aber Lior wusste sich keinen anderen Rat. Sie war die Vierte, die zusammen mit Gorobald, Mila und Jonas auserwählt worden war, um die Welten zu schützen. Als es zum Kampf gegen Loisus gekommen war, hatte sie Mut bewiesen. Lior wusste, dass Hope nun sterblich war und sie nur noch ein einziges Leben zu Ende führen konnte. Das Bestreben der Medusier, die höchste Stufe der Widergeburt zu erreichen, war für sie unwiederbringlich zerstört worden, nachdem sie ihre Waffe erhoben hatte, um einem anderen das Leben zu nehmen.
Es traf ihn schmerzhaft, dass es so weit hatte kommen müssen, da er bis zuletzt gehofft hatte, dass sich alles friedlich lösen lassen würde. Aber es kam anders und Lior befürchtete, dass sie jetzt noch einer viel Größeren Bedrohung ausgesetzt waren. Noch immer hatte er keinerlei Vorstellung, was sich da in Tamieh wie ein Geschwür eingenistet hatte. Er hatte keinerlei Vorstellung von der Obszönität, zu der Jonas Seele, mit der Verbindung zu Antrawu geworden war.
Dennoch ahnte er, dass das, was sich da am Südtor befand, dafür verantwortlich war, dass die Alte Cormeums ihre Arbeit niedergelegt hatte. Sie konnte oder wollte nicht preisgeben, was sich dort entwickelte. Ähnlich war es mit der Alten Tamiehs. Zwar strickte sie noch immer, aber sie ließ Dinge scheinbar unberührt und zeigte sie nicht.
Lior hatte Murr und La nach Medusien geschickt, damit sie Hope über das was hier vor sich ging unterrichteten und sie noch einmal darum baten, sie nach Tamieh zu begleiten.
Es war schwer für ihn gewesen, diese Entscheidung zu treffen, wusste er doch, wie glücklich Hope war, in ihre geliebte Welt zurückzukehren. Aber welche Wahl hatte er?
Nun saß er in der Bibliothek an dem großen Tisch, an dem sich die vier Auserwählten und er das erste Mal begegnet waren. Ein tiefes Seufzen entrang seiner Kehle und er schlug die Hände übers Gesicht.
Die Tür zu dem Raum, in der er sich befand, wurde leise geöffnet und Gwydion und Pirmin traten ein.
Lior hob seinen Kopf und sah die beiden an. Verbitterung war in seinen Augen zu sehen, als er sie bat, Platz zu nehmen.
„Gwydion, Pirmin, wie schön das Ihr meiner Aufforderung gefolgt seid und mir hier Gesellschaft leistet“, sagte er mit ruhiger Stimme. Die konnte die beiden Kauscher allerdings nicht täuschen. Sie spürten, was in Lior vorging und auch ihnen erging es nicht anders. Sie hatten das Ding im Nebel gespürt und es war eine Erfahrung, die ihnen wirklich Angst gemacht hatte. Sie hatten Antrawu bereits vorher schon betreten und auch das war für sie nicht leicht zu ertragen gewesen. Aber das, was da jetzt am Südtor lauerte, hatte eine ganz andere Dimension erreicht und sie schafften es nicht einmal in die Nähe davon. Noch bevor sie den Nebel überhaupt sahen, wurden sie von einer Gewalt an Gefühlen übermannt, die ihnen ein weitergehen unmöglich machten. Das Grauen was sich ihnen bot, hatte sie vollkommen unerwartet erwischt und in ihnen ihren Fluchtinstinkt ausgelöst. Als wäre der Teufel persönlich hinter ihnen her, rannten sie zurück zum Nordtor, wo sie ihr Erlebnis atemlos geschildert hatten. Lior hatte die beiden um Verschwiegenheit über ihr Erlebnis gebeten. Das Letzte was er jetzt noch gebrauchen konnte, waren völlig verängstigte Bewohner Tamiehs, die ihm Fragen stellten.
Die Tatsache, dass das Südtor nicht mehr betreten werden durfte, hatte ohnehin schon für Tumult gesorgt. Lior hatte Gwydion und Pirmin gebeten, dass die Kauscher entlang einer sicheren Linie zum Südtor darauf aufpassten, dass sich niemand dieser Anweisung widersetzte.
Gwydion und Pirmin schauten nun zu Lior, der nachdenklich vor sich hinstarrte.
"Gibt es etwas Neues, Lior?“, fragte Gwydion nun, um die unangenehme Stille zu durchbrechen.
Einen Moment schaute Lior den Kauscher nur an, dann nickte er langsam: „Ja, leider scheint es immer nur noch mehr neuer Dinge zu geben, die mich langsam um den Verstand bringen. Ich spreche ganz offen zu Euch. Ich weiß nicht mehr, was ich noch tun soll. Jeder Schritt scheint in die Falsche Richtung zu gehen.“
Die beiden Kauscher sahen sich erschrocken an. Sie hatten mitansehen müssen, wie sich Lior in der letzten Zeit verändert hatte und aus dem so selbstsicheren und stattlichen Magier, ein kümmerliches Abbild geworden war.
„Lior, es gibt immer einen Weg. Du selbst sagtest immer, egal wohin er führt, er führt uns voran.“ Pirmin hatte gesprochen und erschrak sich fast selber darüber. Für gewöhnlich hielt er sich zurück und überließ Gwydion oder Ulik das Wort. Aber Ulik war fort und Gwydion schien ausnahmsweise mal sprachlos zu sein.
„Seit ich die vier Bewahrer der Welten hier nach Tamieh geholt habe, scheint es, als wäre ich nicht mehr in der Lage, die richtigen Entscheidungen zu treffen“, sagte Lior müde. „Mir scheint, als wären schon diese vier eine ziemlich miserable gewesen“, setzte er nach einer kurzen Pause hinzu, woraufhin Gwydion schnaufte, sich aber zu keinem Kommentar hinreißen ließ. Der alte Mann hatte genug, womit er zu kämpfen hatte.
Die drei Männer schwiegen wieder eine Zeitlang, bis Lior den beiden Kauschern erzählte, dass er Hope zurück nach Tamieh holen ließ. Gwydion schüttelte traurig den Kopf, Pirmin schwieg.
„Da Gorobald und Mila hier sind, warum nicht auch sie“, sagte Gwydion schließlich genervt. Er wusste nicht, ob er den Entscheidungen dieses Mannes noch trauen sollte. Mila, die scheinbar jedem den Kopf verdrehte, Gorobald, der nichts Besseres zu tun hatte, als ihr ein Kind zu machen und Jonas! Gwydions Gedanken schossen zu dem Moment in der Höhle zurück, als Myrthe ihnen erzählt hatte, dass Jonas Loralda getötet hatte und was er Ulik hatte tun lassen. Der ungeheure Sturm, der Gwydion erfasst hatte und ihn dazu gebracht hatte, Jonas hinter sich herzureißen. Den Abhang hinunter, hinein in den Wald. Gorobald und Myrthe hatten ihn nicht aufhalten können, aber sie hatten ihm geschworen, dass niemals ein Wort ihre Lippen verlassen würde, über das, was geschehen war.
„Gwydion, alter Freund“, begann Lior. „Glaube mir, hätte ich die Möglichkeit die Zeit zurückzudrehen, dann würde ich das sofort tun. Aber ich musste Entscheidungen treffen und muss es auch heute noch. Wenn wir nicht herausfinden, was am Südtor vor sich geht, dann glaube ich, das Tamieh verloren ist.“
Er machte eine Pause, stand auf und ging zum Fenster. Der Smaragdweg war gefüllt mit Wesen aller Art, die geschäftig hin und herliefen. Es wirkte friedlich, aber Lior ließ sich nicht täuschen. Die Bewohner Tamiehs waren besorgt und das zu Recht.
„Ich war bei den Alten. Die Alte Cormeums hat ihre Arbeit niedergelegt und starrt mit toten Augen ins Nichts.“
Gwydion sog scharf die Luft ein, als er das hörte und auch Pirmin war tief betroffen. Anders als die Bewahrer der Welten, war den Bewohnern Tamiehs bewusst, dass die Alten überaus wichtige Gestalten waren, an denen man ablesen konnte wenn ein Ungleichgewicht bestand und sie nicht bloß kurios wirkende strickende, alte Damen waren.
„Tamieh…“, fuhr er fort, „ich weiß gar nicht ob ich richtig interpretiere, was ich da gesehen habe, aber es scheint mir, als würde sie gewisse Dinge einfach nicht mehr sehen. Es fehlen Stücke und es würde mich nicht überraschen, wenn der Nebel damit zusammen hängt.“
„Aber wie sollen wir herausfinden, was da vor sich geht Lior? Wir haben es versucht und es ist unmöglich sich dem Südtor zu nähern, ohne den Verstand zu verlieren,“ sagte Gwydion. Er würde freiwillig nicht noch einmal versuchen, dorthin zu gelangen.
„Nun, vielleicht benötigen wir einfach eine neue Sichtweise auf die Dinge und vielleicht ist Hope in der Lage uns diese zu verschaffen. Wir dürfen nichts unversucht lassen“, entgegnete Lior. Er schaute nun Gwydion direkt an und der Kauscher wurde unruhig.
„Gwydion. Zwei Dinge gibt es noch zu klären. Wisst Ihr wo sich Ulik aufhält oder könnt Ihr ihn finden?“
Der Angesprochene schüttelte den Kopf, als er antwortete: „Nein Lior, tut mir leid. Wir haben es wirklich versucht, aber Ulik will scheinbar nicht gefunden werden. Wir sind weiterhin dabei es zu versuchen, aber er ist nicht dumm und ich kann Dir nicht versprechen, dass wir Erfolg haben werden.“
Lior überlegte und nickte dann. „Versucht es. Wir müssen uns mit Ulik unterhalten. Und zwar dringend!“
Wieder herrschte einen Moment eine unangenehme Stille, bevor Lior Pirmin bat, kurz draußen zu warten. Der erhob sich sofort und war froh weg zu kommen. Er hasste schlechte Nachrichten und hatte genug davon. Das, was Lior jetzt noch zu sagen hatte, würde ihn noch viel mehr aufregen, das spürte er. Er ging durch die schwere Tür und schloss sie leise.
Gwydion erhob sich und ging zu Lior ans Fenster.
„Lior, ich weiß was Du wissen möchtest, aber bitte zwing mich nicht dazu. Es ist schlimm genug für mich gewesen“, sagte Gwydion leise.
Lior sah ihn traurig an und legte seine Hand auf seine Schulter. „Gwydion, sieh mich an! Ich habe allergrößten Respekt vor Dir, Ulik und Pirmin. Ihr Drei wart immer sofort zur Stelle, wenn Hilfe benötigt wurde und ich konnte mich auf Euch verlassen. Nichts was Du mir jetzt erzählst wird daran etwas ändern, verstanden?“
Mit erwartungsvollem Blick schaute er in die goldfarbenen Augen des Kauschers. Ein Schatten huschte über dessen Gesicht, dann nickte er langsam, sagte aber nichts.
„Bitte“, begann Lior, „Du musst mir sagen, was mit Jonas geschehen ist. Das Einzige was Ihr mir erzählt habt ist, dass er niemanden mehr schaden wird. Aber was ist geschehen. Sag es mir!“
Die Wut loderte wieder in Gwydion auf, als er den Tag in der Höhle in seine Gedanken ließ. Es war, als hätte Myrthe ihm gerade erst erzählt, was Jonas getan hatte.
Gwydion ließ alle Vorsicht fallen und erzählte Lior die schreckliche Wahrheit. Seine Worte strömten aus ihm heraus, begleitet von ungezügelter Gewalt. Er beschrieb, wie er Jonas aus der Höhle mit sich gerissen hatte, während er mit ihm die Felsen heruntersprang, ohne Rücksicht auf Jonas zu nehmen. Der Wald war der Ort, an dem er seinen dunkelsten Gedanken freien Lauf gelassen hatte. Mit Zähnen und Klauen misshandelte er Jonas auf brutalste Weise, doch er verschonte Lior mit den Einzelheiten. Es war wichtig, dass er das Ausmaß der Gewalttat verstand, aber Gwydion wollte ihn nicht mit den grausigen Bildern quälen, die in seinem Kopf herumspukten. Es war ein Akt der Zerstörung, bei dem Gwydion erst von Jonas abließ, als von ihm kaum noch etwas übrig war.
Lior war völlig erschüttert über dieses Geständnis, doch er konnte auch ein gewisses Maß an Verständnis aufbringen. Er spürte den Schmerz hinter Gwydions Worten. Es war ein Akt der Verzweiflung, der von einem gebrochenen Herzen angetrieben wurde.
Es dauerte einen Moment bis Lior sich in der Lage sah zu antworten. Denn auch wenn Gwydion auf Details verzichtet hatte, war die Fantasie ein gemeines Biest.
„Ich danke Dir für Deine Aufrichtigkeit, mein Freund“, sagte er ruhig, auch wenn es in seinem Inneren tobte. „Ich muss darüber nachdenken und hoffe Ihr könnt Ulik bald finden, damit er uns vielleicht noch weitere Puzzleteile des Bildes verraten kann.“
Gwydion nickte nur langsam, drehte sich um und ließ den alten Mann mit seinen Gedanken allein zurück.
***
Sie schleppten sich weiter, krochen teilweise auf allen vieren die steilen Felsen hinauf, ohne auch nur eine kurze Pause einzulegen. Ihre Füße waren blutig. Die, die Schuhe trugen, hatte es sie schon fast völlig zerfetzt.
Der Kreatur war es egal, wie diese Sklaven den Berg hochkamen, hauptsache sie schafften es. Ohne Rücksicht trieb er sie weiter an und eine Frau, Sverrir erkannte sie als eine Flirrerin, verlor den Halt und rutschte ab. Sie war zu nahe an einem der tiefen Schluchten gelaufen, die sich zu beiden Seiten von ihnen befanden. Ein falscher Schritt und sie spürte nichts mehr unter ihren Füßen. Hilflos musste der Kauscher mit ansehen, wie sie durch den Nebel in die Tiefe stürzte. Ein widerliches Geräusch war zu hören. Das Aufschlagen des Körpers der Frau auf dem felsigen Grund und auch das, von brechenden Knochen. Und dann - hörte er sie. Sie schrie und kreischte entsetzlich, dann jammerte sie laut, man solle ihr helfen. Ihre Schmerzen ließen sie brüllen vor Qual.
Sverrirs Kopf versuchte aufzublicken, doch es gelang ihm nicht. Er konnte kaum fassen, was sich in diesem Unglück offenbarte. Er versuchte etwas zu sagen, aber auch das gelang ihm nicht. Sein Mund verzog sich zu einem gequälten Grinsen und er begann zu Levin aufzuschließen. Da der Weg nach vorn kein Hindernis bereithielt, hatte Sverrir ihn schnell erreicht. Er lief eine Zeitlang neben dem Schlüsselmeister, aber wieder gelang es ihm nicht, seinen Kopf zu drehen, um auf sich aufmerksam zu machen. Stattdessen suchte er aus den Augenwinkeln heraus Levins Blick. Als er glaubte, dass auch der Schlüsselmeister nun zu ihm sah, zwinkerte er einmal und der Schlüsselmeister zwinkerte ebenfalls. Sverrir zwinkerte nun zweimal und Levin tat es ihm nach. Dann nahm Sverrir all seine Kraft und konzentrierte sich darauf, seine Hand in Richtung Levin zu bewegen und er sah, dass der es ihm gleichtat. Eine gefühlte Ewigkeit tasteten sich ihre Hände Millimeter für Millimeter voran und als sich ihre Fingerspitzen endlich trafen, hätte Sverrir weinen können vor Glück, wenn er dazu in der Lage gewesen wäre. Dann spürte er irgendwann, und auch das kam ihm wie eine vergangene Unendlichkeit vor, die Hand von Levin in seiner. Er nahm alle Kraft zusammen und packte zu. Mit Gewalt hielt er nun den Schlüsselmeister fest und tastete mit seinem Fuß den Boden ab. Er hatte mittlerweile Schweißperlen auf der Stirn und sein ganzer Körper schmerzte, weil es ihn enorme Kräfte abverlangte, so einfache Bewegungen durchzuführen.
Sein Fuß berührte Steine und kleine aufragende Felsen und dann schließlich, trat er ins Nichts. Noch einmal brachte er alles an Kraft auf, die er zur Verfügung hatte und verlagerte sein ganzes Gewicht auf die Seite, auf der er ins Leere getreten war. Er verlor den Halt und stürzte hinab. Dabei riss er den alten Mann mit sich in die Tiefe. Der Aufprall war hart, aber Sverrir war ein Kauscher und war blitzschnell herumgedreht und fing den Sturz von Levin ab, so gut er konnte. Trotzdem verletzte sich der Schlüsselmeister schwer.
Sverrir schaute sich um, nahm Levin auf seinen Arm und schleppte sich an den steil aufragenden Felsen entlang. Er musste sich beeilen, bevor dieses Ding vielleicht spürte, dass der Schlüsselmeister nicht mehr in seiner Gewalt war. Dann plötzlich tat sich ein Spalt in der Steinwand auf und Sverrir schlüpfte mit Levin auf seinen Armen hindurch. Der alte Mann stöhnte vor Schmerz, aber darauf konnte der Kauscher jetzt keine Rücksicht nehmen. Er rannte, so schnell er konnte, tief in die Höhle hinein und erst als er hoffte, weit genug gelaufen zu sein, blieb er stehen. Vorsichtig legte er Levin ab und fiel dann völlig erschöpft auf den steinigen, kalten Boden.
Levin ächzte laut und hielt sich den Arm. Sverrir vermutete das er gebrochen war, aber in Anbetracht was für einen Sturz sie gerade hinter sich hatten, war das wohl ein kein allzu hoher Preis. Er hörte ein plätschern neben sich und drehte seinen Kopf in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Ein kleiner, glitzernder Bach floss durch die Höhle und der Kauscher kroch langsam darauf zu. Das klare, kalte Wasser sah verführerisch aus und er tauchte seinen ganzen Kopf in das wunderbare Nass. Dann tauchte er schnaufend wieder auf und setzte sich. Er brauchte noch einen kurzen Moment, stand dann auf und ging zum Schlüsselmeister, der immer noch auf dem Boden lag und seinen Arm hielt.
„Levin“, flüsterte Sverrir, „kannst Du aufstehen? Wir können hier nicht bleiben und sollten tiefer in die Höhle. Ich weiß nicht was dieses Wesen ist und ob es uns hier finden kann. Wir sollten nicht zu lange hier ausruhen!“
Der Schlüsselmeister sah ihn mit seinen dunkelblauen Augen an, die die Erschöpfung deutlich wiederspiegelten. Er versuchte sich aufzurichten und Sverrir unterstützte ihn.
„Danke!“, kam es nun leise von dem alten Mann und er erhob sich vorsichtig. „Verrätst Du mir Deinen Namen?“, bat er und stöhnte wieder, da jede Erschütterung seines Körpers Schmerzen in seinem Arm auslöste, der tatsächlich gebrochen war.
„Ich bin Sverrir und lebe eigentlich am Osttor. Trink etwas Levin, dann sollten wir weiter“, antwortete Sverrir, während er sich in der Höhle umsah und erkannte, dass sie Glück hatten. Sie führte tiefer in das Gebirge hinein und er hoffte, dass sie irgendwie zurück nach Tamieh finden konnten. Das Südtor schloss er als Möglichkeit allerdings aus. Es würde sie nur wieder in die Fänge dieses scheußlichen Wesens bringen. Sie mussten also einen anderen Weg finden.
Die Höhle hatte eine unheimliche Atmosphäre, die durch das wundersame Leuchten der fluoreszierenden Pflanzen noch verstärkt wurde. Das gesamte Gewölbe der Höhle schien von einem magischen Licht erfüllt zu sein, dass sich auf dem Moos, den Pilzen und den kleinwüchsigen Bäumen, die hier wuchsen, brach.
Sverrir und Levin tauchten immer weiter in das Dunkel der Höhle ein, während der Weg immer beschwerlicher wurde. Stalaktiten versperrten immer wieder den Weg und Stalagmiten ragten gefährlich herab, während Wassertropfen auf sie hinunterfielen, was ihr Vorankommen zusätzlich erschwerte. Vor allem Levin hatte Schwierigkeiten, sich auf dem rutschigen Boden zu halten und stolperte immer wieder. Sverrir musste ihm immer wieder zur Hilfe eilen, um ihn auf den Beinen zu halten.
Sie wichen den wuchernden Pflanzen aus, die den Weg umrankten. Moose schimmerten in verschiedenen Grüntönen, während leuchtend rote und orangefarbene Pilze unheimliche Schatten warfen.
Immer tiefer drangen Sverrir und Levin in das Gewirr aus engen Gängen und Höhlen ein. Ihnen kam es vor, als würden sie in eine andere Welt eintauchen, weit entfernt von der Sonne und der frischen Luft des Tageslichts.
Die Dunkelheit nahm zu, aber das unheimliche Leuchten der Gewächse flackerte wie Laternen und gab ihnen zumindest einen kleinen Hinweis auf den bevorstehenden Pfad. Das Echo ihrer Schritte hallte durch die Gänge und hin und wieder hörten sie weit entfernte Geräusche, die ihnen eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Sie wurden sich bewusst, dass sie vielleicht nicht die einzigen hier waren und dass jeder Fehler fatale Konsequenzen haben konnte. Dennoch setzten sie ihren beschwerlichen Weg fort. Welche Wahl hatten sie auch.
„Levin“, unterbrach der Kauscher irgendwann die unnatürliche Stille, „gibt es einen Weg zurück nach Tamieh, ohne dass wir durch das Südtor müssen?“
Sie waren jetzt so weit gegangen, das Sverrir hoffte, dass das Wesen sie hier nicht mehr finden würde. Der alte Mann sah zu dem Kauscher und dachte angestrengt nach. Dann nickte er und zuckte gleichzeitig mit den Schultern, was zu einem neuerlichen Aufstöhnen führte.
„Ja es gibt einen Weg, aber ich kenne ihn nicht. Ich glaube aber, nein bin mir ziemlich sicher, dass er unterhalb von Tamieh verläuft und man beim westlichen Tor oder zumindest in Ardagras landet.“
„Ardagras“, murmelte Sverrir nachdenklich. Er hatte schon davon gehört, auch wenn er selbst noch nie dagewesen war. Er wusste aber, dass es ein wildes Vulkangebiet war, das Dorsberge von Tamieh trennte.
„Gut“, sagte er schließlich. „Im Augenblick können wir ohnehin nicht viel mehr tun, als zu sehen wohin uns diese Höhle führt. Ich hoffe wir finden den Weg, damit wir Lior warnen können.“
Ohne Vorwarnung bebte die gesamte Höhle und brachte die beiden Männer zu Fall. Gesteinsbrocken krachten von den Höhlenwänden hinab und Sverrir und Levin versuchten verzweifelt irgendwo Schutz zu finden. Sie schützten ihre Köpfe mit ihren Armen, was bei Levin dazu führte, dass er gequält aufheulte. Sverrir zog den alten Mann mit sich, unter einen Vorsprung.
Mitfühlend blickte der Kauscher auf den Schlüsselmeister und hoffte das sie bald einen Weg hinaus finden würden.
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